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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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danke « , entgegnete sie etwas steif. Er führte sie zu der Chaiselongue, die mit purpurrotem Samt bezogen war. Ihre Hände zuckten. Sie schluckte, nervös und beschämt zugleich. Unter der Scham machte sich jetzt auch der Hunger bemerkbar, der schon seit geraumer Zeit schmerzlich in ihrem Bauch wütete.
    » Hier wären wir. « Mr Chang wies auf das Sofa, das in der Tat sehr einladend aussah. Es war im Feuerschein vom Kamin gebadet, ein flaches, lackiertes Tischchen stand direkt daneben bereit.
    » Perfekt « , sagte sie. Sie tastete in ihrer Rocktasche nach dem Gegenstand, den sie benötigte, und war beruhigt, als sie ihn dort vorfand. Sein winziges Gewicht fühlte sich in den Falten ihrer Kleidung beruhigend an. Dann ließ sie sich auf der Couch nieder, um ihre Schuhe aufzuschnüren.
    » Ich schickte Ihnen gleich Quincey herüber « , sagte der Besitzer. » Wir haben heute eine schöne Auswahl aus Afghanistan. Sehr aromatisch und fein am Gaumen, perfekt für eine Dame. Vielleicht möchten Sie diese Sorte gerne probieren? Oder lieber den gewohnten Burmesen? «
    Sibyl zögerte. » Ach, ich denke, für den Moment nehme ich den Burmesen. Danke. «
    » Sehr gerne, Miss Allston « , entgegnete der Mann, mit einem weiteren winzigen Diener. » Und « , fügte er hinzu und sah sie von der Seite an. » Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass wir gerade einen ausgezeichneten Gunpowder-Tee hereinbekommen haben. « Er hielt inne.
    » Ach ja? « , fragte sie, unsicher, welche Antwort von ihr erwartet wurde.
    » Ja « , antwortete er und ließ sie nicht aus den Augen. » Ihr Vater hat immer diese Mischung bevorzugt, wenn ich mich nicht irre. Soll ich Ihnen etwas davon bringen? «
    Erstaunt richtete sie ihre Augen auf den höflichen Mann in der geblümten Seidenhose, zu der er ein vollkommen unpassendes, kimonoartiges Oberteil trug, und blickte in sein angenehmes, geduldig lächelndes Gesicht. Aber natürlich. Eigentlich war sie nicht einmal besonders überrascht.
    » Nun, es wäre mir eine Freude « , sagte sie und strich mit beiden Händen ihren Rock glatt. » Wie aufmerksam von Ihnen. «
    Er neigte den Kopf und schlurfte davon. Dabei machte er seinem Personal im hinteren Teil des Raumes Zeichen, was sie ihr zu bringen hätten.
    Sibyl saß reglos auf ihrem samtbezogenen Ruhemöbel und starrte minutenlang ins Feuer. Nach einer Weile kramte sie in ihrer Rocktasche, zog die Holzschachtel mit der Kristallkugel hervor und legte sie auf ihren Schoß. Mit dem Daumen klappte sie den Deckel hoch und fuhr gedankenverloren mit den Fingerspitzen über die polierte Kugel. Parallaxe, hatte ihr Vater gesagt. Sibyl rieb ihre bestrumpften Füße aneinander und streckte die Zehen aus. Wenn es verschiedene Möglichkeiten gab, dann musste sie alle davon sehen. Und daraus einen Weg erschließen, um Harlan vor sich selbst zu retten. Und bis sie auch die letzte Möglichkeit gesehen hatte, würde sie hierbleiben, in der plüschigen Opiumhöhle über einer Ladenfront in Chinatown.
    Einige Stunden später war die Glut im Kamin zu einem zerflossenen Rot heruntergebrannt, und Sibyl lag auf dem Rücken, reglos, die Augen glasig und leer. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, ihr Atem ging schnell und flach. Die Haut ihrer Lippen war trocken, und sie fuhr mit der Zunge darüber, um sie zu befeuchten. Auf dem Tisch neben ihr lagen die üblichen Utensilien: die schlanke Nadel, die Schachtel mit dem braunen Klumpen, liebevoll in Zellstoffpapier eingewickelt, die lange Bambuspfeife, die Lampe, die weit heruntergedreht war und flackerte. Eine fast leere Tasse mit erkaltetem Tee stand unbeachtet daneben, Feuchtigkeit perlte an ihr herab.
    Sibyls Hände waren schlaff, hielten die Kristallkugel jedoch fest umschlossen. Durch den Dunstschleier ihrer Erschöpfung hindurch sinnierte sie über das wenige nach, das ihr die vergangenen Stunden an Erkenntnissen gebracht hatten. Bis jetzt hatte sie die Frage der Parallaxe noch nicht gemeistert und keine Alternativen entdecken können, wenn sie aus einem anderen Blickwinkel in die Kugel schaute. In all den Stunden wiederholter Bemühungen waren zwar die Einzelheiten immer lebendiger und deutlicher geworden, doch waren es Einzelheiten ein und desselben Bildes – eines Bildes, das sie nicht hinnehmen konnte.
    Zuerst sah Sibyl die rauchverhangene Landschaft, die mit Schützengräben und gerolltem Stacheldraht durchzogen war, in der Ferne gab es Explosionen. Sie kroch am Rande der Gräben entlang und ging dann hinter einem

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