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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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den Atem an, als sie sah, wie frisch die biomorphen Kurven auf Helens Konterfei wirkten, wenn Sonnenlicht darauf schien.
    » Aber hast du meine Gamaschen gesehen? « , hörte sie Harlan vom zweiten Stock aus herunterrufen. Schritte und ein lauter Aufprall, als wäre ein Seekoffer umgekippt. » Die brauche ich nämlich, weißt du. Man hat uns eine Liste gegeben. «
    » Nein, ich habe deine blöden Gamaschen nicht gesehen « , schrie Dovie von der anderen Seite des Flurs in einer Mischung aus Ärger und Kummer. Noch mehr Fußgetrappel, eine Tür fiel ins Schloss. Sibyl lächelte Benton verschwörerisch zu und drückte seine Hand.
    » Warum siehst du nicht nach, ob Papa im Wohnzimmer ist « , schlug sie vor. » Ich würde gerne ein paar Worte mit Harlan reden. «
    Benton warf ihr einen skeptischen Blick zu. » Was wirst du ihm sagen? «
    Sie lächelte. Es war ein trauriger, resignierter Blick. » Ich weiß noch nicht « , gestand sie. » Ich möchte nur ein paar Minuten mit ihm allein sein. Schätze, ich weiß es, wenn er vor mir steht. «
    Er nickte. » Na gut. Ich mache nur schnell einen Telefonanruf, wenn ich darf. «
    Sie zeigte ihm die pilzähnlich überdachte Telefonecke unter der Treppe und fand, als Benton sich entfernte, dass er dort als Umriss vor dem La-Farge-Fenster wie ein Lapithe auf einer antiken Lichtung aussah, eines dieser mythischen Fabelwesen, ähnlich Zentauren, die von Apollo abstammen. Lächelnd stieg sie die Treppe hoch.
    » Harley? « , rief sie leise und klopfte an die Tür ihres Bruders. Sie gab unter ihrem Knöchel nach und öffnete sich.
    In Harlans Zimmer herrschte ein riesiges Durcheinander. Truhen standen offen, Hemden und Wollpullover stapelten sich in Schwindel erregenden Türmen.
    » Hast du sie gefunden? « , fragte er. Er kramte mit dem Rücken zu ihr in einer Schublade.
    » Nein, ich fürchte nicht « , antwortete Sibyl lächelnd.
    Er blickte über seine Schulter, warf sich die störrische Haartolle aus der Stirn und grinste.
    » Ach, du bist’s! Guten Morgen « , erwiderte Harlan mit einem wissenden Blick. » Hab dich beim Frühstück vermisst. «
    Sie hob eine Augenbraue, lehnte sich an einen Bettpfosten und verschränkte die Arme.
    » Sieht so aus, als würdest du gewaltige Fortschritte machen « , sagte sie im Hinblick auf seine Packerei.
    » Na ja, muss ich wohl, wenn ich den Zug schaffen will « , erklärte er. » Ich fahre zuerst nach New York, weißt du, steige dort um und nehme einen anderen Zug, der in das Camp hochfährt. Alle sind dabei. «
    » Sogar deine Freunde vom College? « , fragte sie.
    » Na klar. « Harley grinste, und seine Augen glänzten vor Aufregung. » Jedenfalls ziemlich viele. Wir werden ausgebildet und schließen uns dann den Kanadiern an. Können doch nicht den ganzen Tag herumsitzen und warten, bis Wilson klar im Kopf ist und endlich eine Entscheidung trifft. Die Deutschen haben noch ganz schön Mumm in den Knochen, wie es scheint. Ich hoffe bloß, die Sache ist nicht schon vorbei, bis ich rüberkomme. «
    Sibyl lächelte überrascht. » Ich wusste gar nicht, dass du dich so für Politik interessierst. «
    Er stopfte ein paar weitere Pullover in den Koffer auf dem Boden, setzte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf und schaffte es, ihn zu schließen.
    » Na ja, eigentlich hast du ja recht. Aber aus irgendeinem Grund … « Er hielt inne und starrte nachdenklich vor sich hin. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und er kratzte sich am Kinn, bevor er fortfuhr: » Ach, ich weiß nicht. Schätze, ich konnte einfach nicht glauben, dass sie die Lusitania torpedieren würden. Konnte es mir nicht vorstellen. All diese Menschen. Keiner von ihnen hatte irgendetwas mit dem Krieg zu schaffen. Es gab einfach keinen Grund, warum sie sterben sollten. Oder? «
    Sie sah ihn schweigend an.
    Er saß immer noch auf dem Koffer, die Hände zwischen den Knien baumelnd. » Ich meine, man liest in der Zeitung darüber, was da drüben so alles passiert, von den belgischen Waisenkindern, dem Chlorgas und allem, und es ist so … so fern. Lange Zeit kam es mir irgendwie gar nicht real vor. Oder wenn, dann schien es nichts zu sein, was in irgendeiner Weise mit mir zu tun hatte. Und dann geht dieses Schiff unter … « Er beendete seinen Satz nicht, sondern starrte einen Moment lang aus dem Fenster und begegnete dann ihrem Blick. » Welcher Mann würde einfach nur müßig dabeistehen und nichts tun, wenn etwas Derartiges passiert? Ich habe das Gefühl, ich muss etwas tun.

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