Die Frauen von der Beacon Street
Harlan noch einmal den Kopf aus dem Rückfenster und rief: » Auf Wiedersehen! Lasst mir bloß den alten Baiji nicht in die ewigen Jagdgründe gehen, solange ich weg bin! «
Dann bog der Wagen in die Marlborough Street ein und verschwand aus ihrem Sichtfeld.
Die Zurückgebliebenen, Lan, Dovie und Sibyl, standen mehrere Minuten lang auf der Treppe, als warteten sie darauf, dass die Kraftdroschke zurückkam. Als sie das nicht tat, ließ Lan endlich Sibyls Hand los und kramte in seiner Tasche nach dem Zeitmesser.
» Hm « , sagte er.
Sibyl wandte sich ihm zu und fragte: » Was ist denn, Papa? «
Er lächelte ihr zu, und hinter seinen eisblauen Augen blickte Sibyl einen Moment lang in die wahren Abgründe seiner Traurigkeit.
» Sieht so aus, als würden sie den Zug noch erwischen « , stellte er in einem Ton fest, den Sibyl schwer zu interpretieren fand, und trat ins Haus zurück.
Als die Tür ins Schloss fiel, ließ Dovie den Arm von Sibyls Leibesmitte fallen.
» Du « , fauchte das Mädchen und wandte sich mit vorwurfsvollem Blick Sibyl zu. » Du! Hast! Ihn! Gehen! Lassen! « Mit jedem Wort hob sich ihre Stimme mehr, bis das letzte fast geschrien wurde.
» Wie meinst du das? « , fragte Sibyl verwirrt, weil sie so versunken in ihren eigenen Kummer war, dass sie zunächst nicht begriff, wovon das Mädchen sprach.
» Du hast gesagt, du würdest mit ihm reden! « , kreischte Dovie. » Du hast es versprochen! Wie konntest du ihn bloß einfach gehen lassen? Wie? «
Sibyls Herz schlug schneller, erfüllt von einer Mischung aus Verwirrung und Angst, und jetzt fiel ihr ein, dass Dovie recht hatte. Sie hatte versprochen, mit Harlan zu reden. Und natürlich hatte sie ja auch mit ihm geredet. Nur nicht mit der Absicht, die Dovie sich gewünscht hätte.
» Dovie « , begann sie, streckte vorsichtig eine Hand nach dem Mädchen aus, das vor Kummer und Wut zitterte. Sibyl hörte, wie irgendwo in der Straße ein Fenster hochgeschoben wurde, und sie schluckte, weil sie Dovie mit allen Mitteln davon abhalten wollte, eine Szene zu machen.
» Nein! « , rief Dovie auf und stampfte mit dem Fuß auf. » Du hast es versprochen! Und jetzt ist er weg. Oh, er ist fort, er ist fort. « Mit einem Stöhnen ließ sich das Mädchen zu Boden sinken, die Knie hochgezogen wie ein Straßenjunge, und barg weinend das Gesicht in den Händen. Überrascht machte Sibyl einen Schritt zurück. Dovie schlang die Arme um ihre Knie und schluchzte in den Stoff ihres Rocks. » Er ist weg « , klagte sie. » Was wird denn jetzt aus mir? Was soll ich denn bloß machen? «
Ganz langsam, mit einem prüfenden Blick die Straße entlang, damit auch niemand sie sah, setzte sich Sibyl neben Dovie und schlang ihr einen Arm um die schmalen Schultern. » Mein Liebes « , sagte sie sanft. » Das wird schon. Es wird hart sein, dass er weg ist, aber du schaffst das. Du wirst sehen. «
» Nein, nein, nein « , jammerte Dovie und wiegte sich vor und zurück. » Du verstehst das nicht. «
» Doch, natürlich verstehe ich dich « , murmelte Sibyl und strich über die flaumigen Haare in Dovies Nacken. » Du liebst Harlan. Das weiß ich. Es ist schrecklich, sich von jemandem zu verabschieden, den … « Sie hielt inne, weil ihr ganz allmählich etwas dämmerte. » Den man liebt « , vollendete sie ihren Satz.
» Nein « , weinte Dovie. » Ich meine, natürlich liebe ich ihn, aber das ist noch nicht alles. «
» Nein? «
Dovie sah Sibyl mit ihren tränennassen Augen an, die mit schwarzer Schminke verschmiert waren. Rotz hing blasig an ihrer Nase, und ihre rubinroten Lippen waren vom Weinen geschwollen. Sibyl strich ihr das Haar aus der Stirn und küsste sie auf die Stirn.
Dovie hatte einen Schluckauf und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Sie trug immer noch eine von Sibyls Blusen.
» Sibyl « , sagte sie atemlos. » Ich – ich muss dir etwas sagen. «
Doch in ihrem tiefsten Inneren wusste Sibyl bereits, was Dovie ihr sagen wollte.
INTERLUDIUM
Altstadt, Shanghai
9. Juni 1868
D as frühe Morgenlicht fühlte sich kühler und trockener an, als wären die üblen Dämpfe der Nachtluft vom Fluss weggeschwemmt und ins Meer gespült worden. Lannie atmete tief durch und sog die kühle, auf ganz neue Art würzige Luft in seine Lunge ein. Er fasste in seine Tasche, um sich zu vergewissern, dass sein neues Chronometer und der Rest seines Geldes noch da waren. Alles wie gewünscht.
Der Student seufzte vor Zufriedenheit. » Wieder ein Tag, an dem wir leben
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