Die Frauen von der Beacon Street
Ich habe lange genug nur zugeschaut. «
» Hast du denn keine Angst davor, dass es gefährlich werden könnte? « , fragte Sibyl so behutsam wie möglich.
Er stand auf, schüttelte seine vorübergehende Nachdenklichkeit ab und machte sich wieder an den Hemden auf seiner Kommode zu schaffen.
» Gefährlich? « , wiederholte er lachend. » Na klar wird das gefährlich. Und das soll es auch! «
» Wie kommst du darauf? « , fragte Sibyl, und in ihren Augen schimmerten Tränen. Sie hielt sich ganz ruhig und versuchte, nicht zu blinzeln, damit Harlan ihre Rührung nicht bemerkte.
Er seufzte, schaute sich in dem Kommodenspiegel an. Sibyl sah sein Spiegelbild, das deutlich sichtbar gealtert war, seit er vor wenigen Wochen aus dem College nach Hause gekommen war. Er sah mehr denn je aus wie der Mann, der zu sein er sich so sehnlichst wünschte.
» Schätze « , sagte er mit Blick in den Spiegel, » irgendwann kommt einfach für jeden Mann der Zeitpunkt, wo er sich beweisen muss. Darum geht’s. Meine Zeit ist da. «
Als er das sagte, verschränkte Sibyl ihre Arme vor der Brust und legte die Hände um die Ellbogen. Nach einem kurzen Zögern trat sie neben ihn. Er sah sie etwas überrascht an, und sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. » Harley « , flüsterte sie ihm ins Ohr. » Immer mein kleiner Leutnant. Ich bin so stolz auf dich. «
Er löste sich aus ihrer Umarmung und lachte, offenbar peinlich berührt von ihrer plötzlichen Zurschaustellung von Gefühlen. » Ach, komm schon « , grinste er und schüttelte sie ab.
Sibyl musterte ihn, und ihr kam der Gedanke, dass sie ihren Bruder noch nie so entschlossen gesehen hatte. Und auch so glücklich hatte sie Harlan vielleicht noch nie erlebt.
Natürlich wurden die Gamaschen nie gefunden, und als die motorisierte Droschke vorfuhr, bat Harlan Mrs Doherty ein letztes Mal, ob sie nicht noch einmal in der Waschküche nachsehen könne, wo die Gamaschen nach einem Jagdausflug vor drei Monaten gelandet sein könnten. Während sie darauf beharrte, dass sie dort nicht waren und auch nie gewesen sein konnten, und Lan Allston brummte, gewiss könne man selbst in der undurchdringlichen Wildnis von New York City zu einem vernünftigen Preis ein paar Gamaschen auftreiben, half Benton Derby dem Fahrer, das Gepäck im Kofferraum des Automobils zu verstauen, während diese am Bordstein wartete. Schließlich war alles untergebracht, die Gamaschen wurden endgültig für verloren erklärt, und Harlan stand, mit einem Rucksack über der Schulter, auf der Eingangstreppe des Hauses an der Beacon Street, um sich von seiner Familie zu verabschieden.
» Harley « , stieß Dovie hervor, die ihren Protest nicht länger für sich behalten konnte. » Ich wünschte, du würdest nicht fahren. Warum willst du das denn überhaupt? Es hat doch nichts mit dir zu tun. Geh nicht. Bitte geh nicht. «
Er grinste, schaute mit einem Zwinkern seinen Vater und seine Schwester an und beugte sich dann zu Dovie hinab, um sie auf den Mund zu küssen. Der Kuss währte so lange, dass Benton ihn schließlich mit einem Räuspern beendete.
» Na, komm schon, Dovie. Es wird großartig « , sagte Harlan und blickte ihr mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Vorfreude in die Augen. » Ich versprech’s dir. Und du wirst es kaum merken, dass ich fort bin, so schnell bin ich wieder da. «
Das Mädchen schlug die Hände vors Gesicht, und seine Augenbrauen verzogen sich in einer dramatischen Geste des Kummers zu einem umgedrehten V auf ihrer Stirn. Hinter den Händen hörte man jetzt lautes Schniefen, und die smaragdgrünen Augen füllten sich mit Tränen. Harlan legte die Hände auf ihre Schultern und begnügte sich diesmal mit einem Kuss auf die Stirn. » Du bist jetzt ein braves Mädchen, okay? Und schreib mir. Schreib mir, sooft du willst. Okay? «
Sie nickte, doch das Schniefen hörte nicht auf.
Dann wandte sich Harlan Lan Allston zu, dessen scharf gemeißeltes Gesicht eine stoische Ungerührtheit zeigte, die seine Kinder bei ihm bereits seit Langem als Ersatz für die Zurschaustellung von Gefühlen kannten. Sibyl beobachtete ihren Vater aus dem Augenwinkel. Unter dem gespielten Gleichmut konnte sie durchaus einen Mann erkennen, der von tiefem Kummer ergriffen war, einen Mann, der gewusst hatte, dass dieser Tag kommen würde, noch bevor sein Sohn überhaupt zur Welt kam. In diesem Moment begriff sie, dass die erstarrten Gesichtszüge ihres Vaters nicht seine Gefühle gegenüber seinen Kindern
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