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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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Frühjahr nur allzu oft vorkam, einem dicken Nebel gewichen, der bei Nacht durch die Straßen kroch und sich weigerte, von der Sonne weggebrannt zu werden. An Tagen wie diesem schien Boston seine hartnäckige Verbindung zum Wasser zu bekräftigen, als wollte es seine Bewohner daran erinnern, dass zwar die Sümpfe, auf denen es stand, trockengelegt, das früher weitverbreitete Fieber ausgerottet und seine Priele gefüllt waren, es jedoch immer ein kleines Fleckchen Land inmitten einer Wasserwelt sein würde, mit dem Fluss auf der einen und dem Meer auf der anderen Seite. Die Luft roch nach Salz und feuchter Erde. Nach dem Grund eines Flusses.
    Die Kraftdroschke fuhr um eine Ecke und näherte sich der Harvard Bridge, die sich wie der Rücken eines großen Meerestieres aus dem Nebel erhob. Sibyl hörte das Knirschen und Ächzen von Metallrädern, als die elektrische Straßenbahn Nummer 76 auf ihrem Weg nach Boston an ihnen vorbeifuhr, selbst außen voll beladen mit sich windenden Menschen, weil sich jeder Fahrgast unter das Dach drängte, um sich vor dem Nieselregen zu schützen. Sibyl erschauderte bei dem Gedanken an all die vielen Leiber, die da zusammengepresst wurden, an die ungewollte Vertrautheit, die das öffentliche Leben den Großstädtern manchmal abverlangte. Sie legte die nervösen Hände rechts und links unter ihre verschränkten Ellbogen und spürte, wie ein Beben durch ihren Körper ging.
    Ein paar Fußgänger stapften über die Brücke, die Köpfe unter Schirme gesteckt. Hinter ihnen kräuselte sich die schiefergraue Oberfläche des Charles River unter dem weißlich grauen Mantel des Nebels. Die Kraftdroschke legte jetzt ein gemächlicheres Tempo vor, was, wie Sibyl vermutete, entweder ihrer vermeintlichen Vornehmheit oder auch dem Wunsch geschuldet war, einen höheren Fahrpreis herauszuschinden. Sibyls Blick wanderte zum Hinterkopf des Fahrers. Er trug eine tief ins Gesicht gezogene Wollmütze, unter der eine dicke Speckrolle hervorquoll und sich über den Kragen legte. Wie oft mochte er diese Brücke am Tag überqueren? Und woran er bei all diesen Fahrten wohl dachte? Bemerkte er sie überhaupt noch?
    Nun schälten sich aus dem Nebel die Umrisse der Häuser von Cambridge heraus; zuerst kam die neue Betonkuppel des Instituts für Technologie in Sicht. Sibyl knetete die Hände in ihrem Schoß. Der Anruf war spät gekommen, eine ganze Weile nachdem sich ihr Vater zur Nacht begeben hatte. Sie selbst war noch wach gewesen und machte es sich gerade mit einem Buch im Bett gemütlich, als Mrs Doherty leise an der Tür klopfte. Einen Moment später stand die Haushälterin in der Tür, eine Lampe in der Hand, den Morgenmantel fest gegürtet, das Haar zu einem langen Zopf über der Schulter geflochten. Sie wirkte verschlafen.
    » Telefon. Ein Mister Derby. Ich hab ihm gesagt, dass es viel zu spät ist, um das ganze Haus aufzuscheuchen, aber er hat darauf bestanden « , teilte ihr Mrs Doherty in einem Ton mit, der anzudeuten schien, Sibyl solle es sich zweimal überlegen, ehe sie einem solch unverschämten Ansinnen nachgebe.
    » Benton Derby? Sind Sie sicher? « , fragte Sibyl verwirrt und stützte sich auf einen Ellbogen auf.
    » Ich hab den Hörer für sie hingelegt, Ma’am « , sagte Mrs Doherty und zog sich dann zurück. Das Licht ihrer Lampe folgte ihr eine Weile wie eine Spur, während sie in Richtung Dienstbotentreppe ging.
    Sibyl stand auf, legte sich einen hauchdünnen Morgenmantel über die Schultern und nahm ihre eigene Lampe in die Hand. Als sich ihre nackten Zehen in den weichen Flor des Teppichs bohrten, musste sie wieder an ihre nächtlichen Exkursionen in den Salon denken, als sie noch ein Mädchen gewesen war. Im Vestibül befand sich in einer eigens eingerichteten Nische das Telefon, ein technisches Ungetüm. Der Hörer lag auf dem Tisch daneben. Im Hintergrund ragte das La Farge auf. Sibyl zögerte, weil sie zu ihrer eigenen Überraschung feststellen musste, dass sie nervös, ja gar ein wenig aufgeregt war, bevor sie den Hörer an ihr Ohr presste und die Lippen ans Mundstück hielt.
    » Ben? « , flüsterte sie. Ein lautes Husten kam durch den Hörer, und Sibyl verzog das Gesicht und hielt ihn ein Stück weit von ihrem Ohr weg.
    » Hallo, Sibyl? Sind Sie das, Sibyl? Hallo? « , dröhnte eine Männerstimme auf der anderen Seite der Leitung. Dann sprach sie kurz über das Mundstück hinweg. Woher wissen Sie eigentlich, dass dieses verdammte Ding funktioniert? Wie? Nun, dann müsste es doch …

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