Die Frauen von der Beacon Street
Sie als für mich. Sagen wir halb drei. Bis dahin müsste ich mit der eigentlichen Sprechstunde durch sein und widme mich dem Papierkram. Eine Unterbrechung ist mir willkommen. Kann es eigentlich gar nicht erwarten. «
Obwohl sie bei ihrem ersten richtigen Gespräch mit Benton kühl und distanziert wirken wollte, konnte Sibyl gar nicht anders als lachen. » Und welche Fakultät? Wo kann ich Sie finden? «
» Fakultät für Sozialethik. Suchen Sie einfach nach dem Büro, das am schlechtesten beleuchtet ist. «
Das Automobil hielt an, und Sibyl suchte in ihrer Handtasche nach Kleingeld, um den Fahrer zu bezahlen. Sie stieg aus dem Wagen, der ihrem Gewicht durch ein Schwingen der Federn nachgab, und kämpfte kurz mit ihren Röcken, die sich um die Fesseln verheddert hatten. Dieses Kleid würde sie kürzen müssen, niemand trug mehr bodenlange Röcke. Sibyl kam sich wie eine törichte alte Jungfer vor, wobei ihr ungutes Gefühl noch durch eine Gruppe von jungen Studenten verstärkt wurde, die auf dem Gehsteig an ihr vorbeikamen und keinerlei Notiz von ihr nahmen. Die Kraftdroschke fuhr langsam davon.
Sibyl hob das Kinn und setzte eine Miene auf, die sie flüchtig wie Helen aussehen ließ. Dann rückte sie ihren Hut zurecht und betrat unter einem schmiedeeisernen Tor hindurch den Campus.
Er war voller junger Männer, die in Grüppchen zusammenstanden und eher ihre Freizeit zu genießen schienen, als mit Studiendingen beschäftigt zu sein. Hier balgte sich eine Gruppe um einen Fußball, dort lagen ein paar mit gelockerter Krawatte auf dem Rasen. Muntere Musik drang scheppernd aus einem Grammophon hinter einem offenen Fenster, auf dessen Fensterbank ein Paar strumpfsockige Füße lagen. Ein älterer Student mit ernster Miene unter dem Hut schob ein Rad vorbei. Es überraschte Sibyl, wie anders der Campus aussah, seit die Bibliothek fast fertig war.
Von der Bibliothek hatte Sibyl schon drei Jahre hinter vorgehaltener Hand reden hören, doch sie hatte nicht gewusst, dass das Gebäude kurz vor seiner Vollendung stand. Ein fernes Hämmern war von drinnen zu hören, doch von außen sah es bereits vollendet aus, ein Tempel des Wissens aus Backstein und Beton. Mrs George Widener hatte ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, das natürlich als Spende an die Universität galt, jedoch vor allem als Mahnmal für ihren ertrunkenen Sohn gedacht war. Gerüchte besagten, im Herzen der Bibliothek solle ein Arbeitszimmer eingerichtet werden, das dem des armen Harry bis aufs Haar glich und seine kostbarsten Bücher beherbergen sollte.
Jeder beteuerte, Mrs Widener habe sich nie ganz vom Verlust ihres Ehemannes und Sohnes erholt. Die beiden Männer hatten Mrs Widener und ihr Mädchen nach endlosem Warten in ein Rettungsboot gesetzt, wie Sibyl in der Zeitung gelesen hatte, und waren dann an Deck des Unglücksdampfers zurückgekehrt, in dem Wissen, dass es für sie keine Hoffnung auf Rettung gab. Sibyl bezweifelte, dass sie jemals einen solchen Mut aufgebracht hätte. Was, wenn ihr Vater und Harlan mit an Bord gewesen wären? Hätten ihre Mutter und Schwester es dann auch in ein Rettungsboot geschafft? Einige Männer hatten überlebt. Vielleicht wären sie ja dann alle zusammen in einem eigens angemieteten Eisenbahnwaggon nach Boston zurückgekehrt und hätten den Zeitungen Interviews über ihre schrecklichen Erlebnisse gegeben, zu Recht voll schlechten Gewissens dafür, dass man im Gegensatz zu vielen anderen in Sicherheit war.
Was hatten Helen und Eulah getan, als sie zum ersten Mal bemerkten, dass Wasser in das Schiff strömte? Und als sie wussten, dass das Wasser ihnen den Tod bringen würde? Einen Moment lang schloss Sibyl die Augen, in ihren Ohren hallten Schreie wider, die sie doch nie gehört hatte, eisiges Wasser sprudelte um die Füße ihrer Mutter und Schwester. Doch Sibyl schob das Bild rasch von sich.
Wie konnte man seiner Trauer um einen Bücherwurm besser Ausdruck verleihen als mit der Errichtung einer neuen Bibliothek?, überlegte sie und lenkte ihre Gedanken in sichere Gewässer. Obwohl, wie sie vermutete, manche zukünftigen Generationen von Studenten in Harvard während der Examen allen Grund finden würden, den Namen Widener zu verfluchen. Jedenfalls würde mit der Eröffnung der Bibliothek vielleicht endlich der Klatsch darüber verstummen, wie schnell Mrs Widener wieder geheiratet hatte. Möglich, doch Sibyl war nicht allzu zuversichtlich.
Helen war so aufgeregt über die Tatsache gewesen, dass die Wideners an
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