Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
Vom Netzwerk:
« , meinte er. » Du weißt ja, dass ich während der Vorlesungszeit immer Sprechstunde habe. Du bist jederzeit willkommen. «
    » Gut « , erwiderte Harlan mit einem unbehaglichen Lächeln. » Bis dann. «
    Harlan eilte die Straße entlang, die Hände in den Manteltaschen vergraben, die Augen auf die Schuhe gesenkt. Er wünschte, Benton nicht gesehen zu haben, dem die Geschichte mittlerweile bestimmt längst zu Ohren gekommen war. Harlan runzelte die Stirn, sah seinen Füßen dabei zu, wie sie über das Kopfsteinpflaster huschten und dabei immer wieder Pfützen auswichen. Als er den Common erreichte, blieb er einen Moment lang stehen, schaute über die Schulter und sah Benton immer noch unter dem Vordach des St. Swithin Clubs stehen, die Arme verschränkt. Er blickte ihm hinterher.
    Harlan wandte sich wieder ab, ohne ihm zuzuwinken, und brachte im Laufschritt die Treppe von der Beacon Street hinter sich, wo ihn sogleich die menschenleere Dunkelheit des Common bei Nacht einhüllte. Erst hier in der Finsternis fiel die Scham von ihm ab, die er gerade noch empfunden hatte. Er ging in südöstlicher Richtung, und der Nebel um ihn herum wurde dicker. Die Feuchtigkeit bildete einen Lichthof um jede Straßenlaterne und legte sich in kleinen Wassertröpfchen auf seinen Mantel, als er quer über die Charles Street in den Park lief.
    Dieser verdammte Benton. Harlan blickte finster drein, als er unter den tropfenden Trauerweiden am Teich vorbeikam und die Wege entlangeilte, die immer schmaler und dunkler wurden und auf denen Tiere allerlei Unrat hinterlassen hatten. Je tiefer er ins Herz der Stadt vordrang, desto geringer wurde seine Scham. An einer Kreuzung mit altersschwachen Häuschen aus dem achtzehnten Jahrhundert, die abblätternde Schindeln und schiefe Schornsteine hatten – Behausungen, auf die die Damen der Historischen Gesellschaft große Stücke hielten, in denen sie jedoch selbst nie hätten wohnen wollen –, blieb er stehen. Ein winziger Junge saß zusammengekauert auf der Vortreppe eines der Häuser. Er trug ein Paar verschmierte Stiefel, die viel zu groß für ihn waren. Die Läden seines Zuhauses waren verrammelt und die Löcher mit Zeitungspapier ausgestopft.
    » Entschuldige « , sagte Harlan. » Kannst du mir sagen, ob ich in der Nähe der Harrison Avenue bin? «
    Der Straßenjunge nickte und hielt ihm prompt die schmuddelige Hand hin.
    » Hab ich mir schon gedacht « , sagte Harlan lächelnd und drückte dem Jungen einen Nickel in die Hand. Dann war er also fast da.
    Er trabte um eine Ecke, und sein Herz machte einen Satz, als er ein Schild mit leuchtenden Lettern, von Kirschzweigen umrahmt, erblickte, unter dem in kleinerer Schrift das Wort » Pension « stand. Darunter war eine unauffällige Tür zu erkennen. Harlan stieß sie auf und trat in einen Flur, dessen einziger Schmuck eine Tapete mit blutroten Kohlrosen war, die sich an den Rändern aufrollte. Eine einzelne Glühbirne brannte in einem Wandlicht aus Milchglas. Er stieg die schmale Treppe hoch, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Seine Schritte wurden von dem abgetretenen Teppich gedämpft.
    Im dritten Stock bog Harlan in einen Flur ein, während sich auf seinem Gesicht ein Grinsen breitmachte. Schließlich hatte er die allerletzte Tür erreicht, hinter der, wie er wusste, eine kleine Mansarde lag, deren Giebel auf die Harrison Street hinausging. Ein getrockneter Minzezweig hing mit den Blättern nach unten am nackten Holz der Tür unter der mit der Hand gemalten Nummer 8. Es war ihr geheimes Zeichen.
    Harlan hob die Hand, um zu klopfen. Sein Puls wurde schneller.
    Genau in diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein lächelndes grünes Auge spähte ihn hinter einer vorgelegten Messingkette an. Die Tür wurde geschlossen, die Kette weggenommen. Dann ging sie wieder auf.
    » Tut mir leid « , begann sich Harlan zu entschuldigen. » Ich konnte einfach nicht … «
    Er wurde von einem erfreuten Lachen und einem » Psst! « unterbrochen. Dann packte die Person hinter der Tür ihn am Revers seines Mantels, von dem die Feuchtigkeit abperlte, zog ihn hinein und machte die Tür zu.

FÜNF
    S ibyls Hände zupften nervös am Saum ihres Mantels. In dem dahinrumpelnden Automobil wurde sie so heftig hin und her geworfen, dass sie bei jedem Schlagloch mit der Hand an ihren Hut greifen musste, um sich zu vergewissern, dass er nicht gegen das Fenster schlug. Das herrlich sonnige Wetter von gestern war heute, so wie es in Neuengland im launischen

Weitere Kostenlose Bücher