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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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dem immer noch sich windenden Jungen, ihrem Bruder, den Benton im Schwitzkasten hatte. Ben, lassen Sie ihn los, bevor es Papa sieht.
    Sibyl seufzte bei der Erinnerung. In jüngeren Jahren war alles viel einfacher gewesen. Doch was genau hatte sich eigentlich geändert?
    Bentons Blick wurde weich, als er sie ansah. Sie blickte in sein Gesicht empor.
    » Was würde ich nicht darum geben « , seufzte sie, » wenn ich wüsste, was in ihm vorgeht. «

INTERLUDIUM
    Internationale Siedlung, Shanghai
    8. Juni 1868
    S chäbig, dachte Lannie. Er stand hinter seinen Schiffskameraden in einem langen, schmalen Raum, der von Lampions und rauchenden Öllampen erleuchtet war. Die Einrichtung war europäisch und von bescheidener Qualität, als wäre sie bereits durch viele Hände gegangen: schwere Armsessel mit Polstern aus zerschlissener Seide, aus deren Innerem überall das Rosshaar quoll. An den Wänden hingen Rollbilder von Landschaften, mit Schriftzeichen unterlegt, die er nicht entziffern konnte. Lannie fühlte sich von diesen Absonderlichkeiten ebenso abgestoßen wie fasziniert.
    An einer Wand zog sich eine Bar entlang, vor der eine Reihe von Hockern westlicher Art stand. Darauf saßen bucklig ein paar Zecher. Aus dem oberen Stockwerk drang der Klang einer Frauenstimme, hoch und schrill, und, wenn es nach Lannies Ohr ging, falsch. Es roch muffig in dem Raum, und Lannie zupfte nervös an seinem Mantel herum, den er dennoch nicht ausziehen wollte. Er vergrub die Hände tiefer in den Taschen und ballte die Fäuste, um sich Selbstvertrauen einzuflößen, das er gar nicht empfand.
    Eine Frau trat auf das Grüppchen von Seeleuten zu. Sie war über fünfzig und trug ein westlich geschnittenes Kleid mit Reifrock und dazu lange Korkenzieherlocken, die sie sich in einer Weise über die Ohren gezogen hatte, die Lannie an seine Mutter erinnerte. Das Haar der Frau war glänzend und schwarz, mit einigen stahlgrauen Strähnen, und ihr Gesicht wirkte verschlossen. Offenbar war sie keine Chinesin reinen Geblüts, obwohl ihre Augen schmal waren und im Schein der Lampen dunkel glitzerten. Lannie starrte sie mit offenem Mund an, bis einer der Männer ihm scherzhaft das Kinn knuffte und ihn mit einem bärbeißigen Lachen aus seiner Verzückung riss.
    Die Frau legte eine knochige Hand auf die Schulter ihres unangefochtenen Anführers, eines fröhlichen Zeitgenossen von etwa fünfundzwanzig namens Richard Derby. Er war ein Derby aus Salem, aber Lannie wusste nicht, aus welchem Zweig dieser illustren Familie er genau stammte. Sicher war er nicht allzu hochwohlgeboren, wenn er als einfacher Seemann auf den Weltmeeren unterwegs war. Jedenfalls war Dick ein bescheidener Mann, bodenständig und von gutem Leumund, und Lannie vertraute ihm.
    Nun stand Dick mit funkelnden Augen da, den Kopf zum Zwiegespräch mit der Frau gesenkt, und ließ ihre Hand da, wo sie war. Lannie wusste, dass die Verhandlungen im Gange waren. Zuerst schien Uneinigkeit zu bestehen, die allerdings nicht gravierend war, denn die Frau lächelte, bleckte wölfisch die Zähne, und Dick lachte und schäkerte mit ihr, oder er tat zumindest so. Dann war der Handel perfekt. Die Frau tätschelte mütterlich seine Schulter und bellte dann einer Untergebenen etwas zu. Die Dienerin lief die Treppe hoch und klatschte dabei in die Hände. Dann waren wieder Schritte zu hören, und Lannie blieb erneut der Mund offen stehen.
    Eine junge Frau schritt die wackelige Treppe hinab, die Hand leicht auf das Geländer gelegt. Sie bewegte sich langsam und mit gesenktem Blick – ein Mädchen, nicht viel älter als er selbst, obwohl sie mit der Schminke im Gesicht und dem eingedrehten und aufgesteckten Haar deutlich reifer wirkte. Sie trug einen weiten Morgenrock aus Seide, der vorn leicht offen stand und mit jedem Schritt, den sie herabstieg, wieder einen kurzen Blick auf ein schwarz bestrumpftes Bein freigab, welches in einem seidenen, hochhackigen Slipper steckte. Er folgte ihr mit den Augen, weidete sich an ihrer porzellanweißen Haut, der dunklen Fülle ihres Haares, den gesenkten Augen. Ihm war flau im Magen. Was er da sah, verstieß deutlich gegen sein Gefühl für Schicklichkeit, und doch wünschte er sich in diesem Moment nichts sehnlicher als die Befriedigung der Gelüste, die sich in ihm regten. Lannie schluckte.
    Hinter dem Mädchen kam eine ältere Frau in einem anders gemusterten Morgenrock, der einen Besatz aus roten Straußenfedern hatte. Die Frau richtete ihren Blick schnurstracks über das

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