Die Frauen von der Beacon Street
Flügelfenstern, doch da es draußen immer noch stockfinster war, konnte sie außer der mannigfachen Spiegelung ihres eigenen aufgewühlten Gesichts nichts erkennen. Benton und Sibyl schauten ihr hinterher und wandten sich dann wieder einander zu.
Bentons Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. Sibyl schüttelte den Kopf und deutete kaum wahrnehmbar ein Achselzucken an.
» Später « , hauchte Benton.
Sibyl nickte.
Sie saßen noch eine Weile zusammen, wie lange hätte Sibyl nicht sagen können, obwohl sie zu gern nach der emaillierten Uhr gegriffen hätte, die sie an ihrer Taille trug. Stimmen wurden auf dem Flur laut, ebbten wieder ab. Dovie hielt sich in der Nähe des Fensters auf, ihr Rücken bebte vor Anspannung, doch sie machte keinen weiteren Versuch, mit ihnen ein Gespräch zu führen. Sibyls Blick wanderte von der Spitze aus flaumigem Haar in Dovies Nacken über den gekachelten Boden des Wartezimmers, die in Tweed gekleideten Beine, die der Mann auf dem Stuhl gegenüber ihr entgegenstreckte, bis zu Bentons Händen, die er im Schoß gefaltet hatte. Mit einem seiner Daumen strich er wieder und wieder über die Haut seines Handrückens. Auf den Knöcheln sprossen kleine Härchen, und an ihnen blieben Sibyls Augen hängen, vertieften sich in der Beschaffenheit seiner Haut.
Die Zeit blieb stehen, während sie warteten.
Ohne sich umzudrehen, seufzte Dovie und sagte: » Er war so sanft zu Harley, wissen Sie das? Ihr Vater. Ich war mir nicht sicher, ob es richtig war, ihn zu holen. Aber er war so freundlich, als er zusammen mit mir zur Pension zurückging. Ich war außer mir vor Angst. So viel Blut. Aber er nahm Harley in die Arme, strich ihm übers Haar, sagte ihm, alles würde gut, während wir auf den Krankenwagen warteten. Hab keine Angst, sagte er. Diesmal wird alles gut. Da wusste ich, dass es richtig gewesen war, Sie aufzusuchen. «
Überrascht wollte Sibyl weiter in Dovie dringen, als die Tür zum Wartezimmer aufging und die gebeugte Gestalt von Lan Allston hereinkam.
INTERLUDIUM
Außerhalb der internationalen Siedlung, Shanghai
8. Juni 1868
D ie Kompresse an seinem Kinn war warm und klebrig von Blut. Lannie tapste hinter dem Studenten her und versuchte, mit seiner dunklen Gestalt mitzuhalten. Der Zopf des Chinesen schwang leicht hin und her, während er sich einen Weg durch die Menge bahnte. Lannie blinzelte, denn ihm war nicht klar, wo genau in der Stadt er sich befand. An einer Kreuzung voller Männer mit Schubkarren, Kutschen sowie einer Kuh hatte er den jungen Mann eingeholt.
» He « , sagte Lannie, um ein Gespräch mit ihm anzufangen.
Der Student drehte sich nicht um. Stattdessen überquerte er mit forschen Schritten die Straße, wich anderen Fußgängern aus. Lannie stolperte hinter ihm her, verzweifelt darum bemüht, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Was sollte er bloß tun? Er sprach kein Chinesisch, wenngleich die lingua franca von Shanghai sowieso ein gebrochenes Englisch war, eine Mischung aus englischen Grammatikbrocken und chinesischen Wörtern. Langsam wandelte sich die Umgebung und wurde zu einem ruhigeren Viertel des Zweiten Kaiserreichs mit backsteingepflasterten Straßen und eleganten Ladenfronten. Immer öfter waren Fetzen schnell gesprochenes Französisch zu hören.
Während er dem Studenten folgte, bemühte sich Lannie insgeheim zu orten, wo sie sich befanden. Wenn er musste, kam er mit dem klaren Englisch, das er sprach, bestimmt weiter. Heimlich tastete er nach seiner Manteltasche, in die ein Bündel Geldscheine eingenäht war. Er war in einer Hafenstadt aufgewachsen. Ganz sicher würde er in der Lage sein, seinen Weg zurückzufinden. Er würde sich einen Schlafplatz für die Nacht suchen. Und in aller Ruhe überlegen, was dann zu tun war.
Als könnte er Gedanken lesen, blickte der Student über die Schulter hinweg zu dem jungen Seemann. » Tut es sehr weh? « , fragte er.
» Könnte man so sagen « , lallte Lannie durch die dicke Schicht geronnenes Blut in seinem Mund hindurch. » Du wirst es kaum glauben. «
Der junge Mann lachte. » Es würde dich überraschen, was ich alles glaube. « Er zupfte an Lannies Ärmel, um ihn weiterzutreiben.
» Wohin gehen wir? « , wollte Lannie wissen.
» Das wirst du schon sehen « , antwortete der junge Chinese. » Man muss nämlich wissen, wo es hingeht, sonst landet man auf irgendeinem stinkenden sampan auf dem Huangpu und bezahlt ein Vermögen für ein kleines Techtelmechtel mit einer Schlampe , die selbst ein
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