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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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ungebrochenen Stroms der Zeit.
    » Eine Modellsiedlung! « , rief Johnny aus, was ein sarkastisches Echo auf den britischen Ausdruck für Shanghai war. Hinter der Wand erspähte Lannie die spitz zulaufenden Silhouetten von Pagoden mit ihren geschwungenen Dächern, wie die filigranen Ränder getrockneter Blätter.
    » Jetzt « , sagte Johnny, » kümmern wir uns um dein Kinn. «
    Lannie hätte seinen abgebrochenen Zahn wesentlich lieber dem Schiffsarzt gezeigt als irgendeinem fremdländischen Doktor mit übel riechenden Kräutertinkturen und gruseligen Nadeln.
    Er lächelte, um Johnny von seiner Idee abzubringen. » Ist nicht schlimm. Wirklich. «
    » Haha « , machte der Student. » Komm schon. «
    Die beiden jungen Männer suchten sich ihren Weg zum Zentrum der eingemauerten Stadt. Sie kamen an einer Gruppe hingekauerter Künstler vorbei, die alle beschauliche, wenngleich fast identische Landschaften auf dünne Papierrollen bannten. Lannies Laune hellte sich auf, und er überlegte, ob er eines der Bilder für seine Mutter kaufen sollte – vielleicht das Bild einer Lerche oder eines Gebirgszuges. Dann fiel ihm jedoch ein, dass genau eine solche Rolle, ausgetrocknet und vergilbt, in der Speisekammer des Hauses an der Chestnut Street hing, ein Souvenir, das einst sein Vater mitgebracht hatte, als er und Lannies Mutter noch jung waren.
    » Johnny « , sagte Lannie.
    » Hm? « , antwortete der junge Chinese, ohne sich umzuschauen.
    » Woher kommt es, dass du so gut Englisch sprichst? « , fragte Lannie.
    Der Student blickte finster über seine Schulter, und Lannie machte einen Schritt rückwärts, um den vermeintlichen Fehler zu überspielen. » Ich meine nur, weil … «
    » Es ist mein Beruf « , unterbrach ihn der junge Mann.
    » Aber was genau ist dein Beruf? «
    Johnny blieb stehen, rollte die Augen himmelwärts und presste Zeigefinger und Daumen an seinen Nasenrücken. » Ich bin Übersetzer « , erklärte er. » Wenn du findest, ich spreche gut Englisch, dann solltest du mal mein Latein hören. «
    » Latein? « , rief Lannie erstaunt. » Für wen übersetzt du denn? «
    » Für jeden, der mich dafür bezahlt. Aber in letzter Zeit hauptsächlich für die amerikanische Bibelmission. «
    » Dann bist du ein Christ! « , rief Lannie überrascht und neugierig geworden.
    » Blödmann « , murmelte der Student. Aber er antwortete nicht.
    Kurz darauf gelangten sie zu einer Straße, die Johnny Xuexiang Lane nannte, ein eher bescheidenes Viertel mit kleinen Läden und verrammelten Häusern. Auf der Straße wimmelte es von geschminkten Damen, die in den Häusereingängen standen und versuchten, die beiden jungen Männer zu sich zu locken. Ihre Augen wirkten ausdruckslos im roten Schein der Lampions. Fingerspitzen streiften Lannies Schultern, als er vorüberging, und er schob die Hände tiefer in die Taschen. Er hatte noch immer seinen Mantel an, obwohl ihm bei der Hitze längst der Schweiß auf der Stirn und dem Haarflaum auf seiner Oberlippe stand. Doch in seinem Mantel fühlte er sich einfach sicherer.
    » Wie gefallen dir denn die zehntausend Blumen? « , fragte Johnny. » Eigentlich sind es gar keine zehntausend, weißt du. Jedenfalls glaube ich das nicht. «
    » Nennt man sie so? « , erkundigte sich Lannie und ließ den Blick unauffällig zu einer älteren, verhärmt wirkenden Frau wandern, die auf einer Türschwelle saß, die Arme verschränkt, und sie beim Vorübergehen finster anschaute.
    » Psst, deshalb sind wir nicht hier « , sagte der junge Student und winkte abfällig. » Die changsan in Madams Haus wären sich sogar zu schade, diese yao’er auch nur zu grüßen. «
    » Changsan? « , fragte Lannie.
    » Drei Zoll lang « , übersetzte Johnny. Und dann fügte er mit einem boshaften Lächeln noch hinzu: » Das kommt von dem Mahjong-Spielstein. « Er lachte, und Lannie, der nicht wusste, was daran so lustig war, lachte nur und nickte.
    » Changsan verdienen Respekt. Die hier « , er schnipste mit den Fingern in Richtung einer Frau unbestimmten Alters, die an einem Türstock lehnte und deren eine bleiche Schulter aus den Falten ihres Seidengewandes hervorlugte, » die hier bezahlt man einfach. Nichts für uns. Und außerdem müssen wir an dein Kinn denken. «
    Bei der Erwähnung hob Lannie die Hand und berührte seine Wange, beschämt darüber, dass seine Verletzung nicht unbemerkt geblieben war. Seine Lippe fühlte sich wie zermatscht an, und der scharfe Schmerz war zurückgegangen und einem dumpfen Pochen

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