Die Frauen von der Beacon Street
leuchten.
Vielleicht war ja die Zeit gekommen, dieser ewigen Nachsicht ein Ende zu bereiten. Vielleicht sollte es Harley endlich erlaubt werden zu scheitern.
Doch zuallererst musste sie dieser … dieser Frau entgegentreten.
Sibyl bog um die letzte Kurve, die Lippen bereits zum säuerlich-schmalen Mund einer alten Jungfer zusammengekniffen. Sie marschierte zu dem Raum am Ende des Flurs, drückte mit der Hand gegen die Schwingtür und öffnete sie weit.
Die Frau – das Mädchen – hatte am Fenster des Wartezimmers gestanden und fuhr nun erschrocken herum. Das Zimmer war eine gähnende, weiß getünchte Höhle, eingerichtet mit ein paar ungemütlich wirkenden Holzstühlen und ein paar billigen Tischen voller Aschenbecher. Zwei nackte Glühbirnen, die von der Decke hingen, gaben ein schummriges Licht ab, tauchten das Gesicht der jungen Frau in eine ungesunde Blässe und verwandelten die vielen kleinen Scheiben der Flügelfenster in zahllose schmierige Spiegel, die die Szene im Wartezimmer in endloser Abfolge zurückwarfen. Die junge Frau war allein, doch die Fenster reflektierten ihren Hinterkopf und die Schultern in einem Dutzend verschiedener Varianten, als hätte sie eine ganze Armee von Schutzengeln bei sich, jeder einen Hauch anders als der vorige.
Die Unbekannte stand aufrecht da, einen Arm wie zum Schutz um die eigene Leibesmitte gelegt. Ihre linke Hand schwebte leicht zitternd, wie ein Nachtfalter, vor ihrem Mund, während sie hastig einen Zug von ihrer Zigarette nahm und dabei winzige Aschepartikel von deren Ende schüttelte. Die grünen Augen standen weit offen, die durchscheinenden Lider blinzelten, und die tiefviolette Farbe der Ringe unter ihren Augen hatte sich noch vertieft. Als sie Sibyl in der Tür stehen sah, trat die junge Frau unwillkürlich einen Schritt zurück. Ihre Tunika mit den eingetrockneten Blutflecken machte dabei ein raues, kratzendes Geräusch.
Die beiden jungen Frauen standen an den entgegengesetzten Enden des Warteraums und starrten sich an. Die schmale Rauchfahne, die von der Zigarette des Mädchens aufstieg, war die einzige Bewegung. Der Moment zog sich dahin, während Sibyl sich die zarten Gesichtszüge des Mädchens einprägte und insgeheim nach dem passenden Weg suchte, das Gespräch zu eröffnen. Wie konnte sie auch nur ansatzweise begreifen, was diese Frau empfand, wenn sie ihre einsamen Nächte in jenem schrecklichen Zimmer über der Harrison Avenue verbrachte? Und was konnte sie selbst sagen, damit sie beide zu einer Art Einverständnis gelangten? Sibyl ließ einen Moment lang ihrer Fantasie freien Lauf und gestattete sich einen flüchtigen Blick auf das Leben dieser jungen Frau, sah all die Männer vor sich, die ihr Sicherheit und Unterstützung boten, wenngleich von einer ganz anderen Art als die, die Sibyl gewohnt war.
Vielleicht doch gar nicht so anders. Die Interessen der Männer, die sich im Zimmer dieses Mädchens zum Schäferstündchen einfanden, waren ja vielleicht ebenso flüchtig und launisch, ebenso abhängig vom Geld und dem, was es einem Menschen bieten oder in Ermangelung nehmen konnte, wie die der jungen reichen Männer, die weit nach Mitternacht mit ihr Rührei gegessen hatten. Fast hörte sie das falsche Gelächter des Mädchens, sah das Funkeln, das es bewusst in seine Augen zauberte, um dem jeweiligen Mann das Gefühl zu geben, er sei etwas Besonderes, jemand, der von ihr verstanden und so gesehen wurde, wie er es sich wünschte, bis er dem Mädchen ganz und gar verfiel und ihm gab, was es wollte. Mit einem Anflug von Übelkeit wurde Sibyl klar, dass die Unterschiede zwischen ihnen im Grunde nur theoretischer Natur waren, und sie begriff mit plötzlicher Klarheit, dass es vielleicht genau dieselben Jungs gewesen waren, die sie damals angelächelt hatte. Aber mehr als gelächelt hatte Sibyl natürlich nicht.
Sibyls Nasenflügel zuckten von dem beißenden Tabakrauch. Sie öffnete den Mund, immer noch unsicher, was sie sagen sollte, als das Mädchen urplötzlich aufschrie, die Zigarette auf den Boden fallen ließ und sich die Fingerspitzen in den Mund schob. Dieser war tief rubinrot, und während sie versuchte, sich die verbrannten Finger zwischen den Lippen zu kühlen, sah sie aus wie ein verängstigtes Kind.
Sibyl trat die Zigarettenasche rasch mit einem Absatz ihres Stiefels aus, griff dann nach der unversehrten Hand des Mädchens und zog es auf einen der Lehnstühle hinab. Das Mädchen richtete einen ängstlichen Blick auf Sibyl, die Finger immer
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