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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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gewichen. Bestimmt würde Whiskey helfen. Trank man denn überhaupt Whiskey im alten Teil von Shanghai?
    Er wollte diese Frage gerade stellen, als Johnny vor einer niedrigen Holztür stehen blieb, über der ein hübsch beschriftetes Banner hing. Der Student packte Lannie an der Schulter.
    » Hier « , sagte Johnny. » Ein huayanjian. Gut für deine Backe, gut für deinen Verstand. « Er wackelte warnend mit dem Finger. » Mädchen sind auch da. Aber die kann ich nicht empfehlen. Deshalb sind wir nicht hier. «
    Lannie schluckte, unsicher geworden. Die Tür sah aus wie der Zugang zur Unterwelt. Er kam sich vor, als stünde er neben sich und beobachtete sich selbst. Genau die gleiche körperlose Empfindung hatte er gehabt, als er sich in dem neuen Atelier auf der Tremont Street hatte fotografieren lassen, zugeknöpft in seiner Schuluniform und in dem Bewusstsein, dass er ein paar Augenblicke lang keinen Muskel rühren durfte, obwohl es ihn schrecklich juckte, zuerst in einer Augenbraue und dann unter dem Kinn. Er hatte hilflos vor der Pappkulisse einer römischen Ruine posiert und auch damals das Gefühl gehabt, allmählich seinen Körper zu verlassen und sich selbst zu beobachten. Er war Lan Allston und war es auch wieder nicht, und die halbe Welt lag zwischen dem Ort, an dem er jetzt war, und allem, was er kannte.
    » Was bedeutet denn huayanjian, Johnny? « , hörte er sich fragen.
    Der Student hob spöttisch eine Augenbraue und lächelte Lannie zu.
    » Es bedeutet ›Gemach des Rauches und der Blumen‹ « , kam seine Antwort. Während er das sagte, stieß er die Tür auf. Sie führte in eine Finsternis, die Lannies Augen nicht durchdringen konnten. Und er sah sich dabei zu, wie er eintrat.

ZEHN
    Back Bay, Boston, Massachusetts
    17. April 1915
    D as Licht hinter Sibyls Lidern wurde rosa, und obwohl sie nicht länger leugnen konnte, dass sie wach war, zog sie die bestickte Überdecke bis unter ihr Kinn und versuchte so, dem Eindringen des Tages Einhalt zu gebieten. Dickköpfig kuschelte sie sich noch tiefer unter ihr Federbett, als könnte sie sich allein mit Willenskraft dazu zwingen weiterzuschlafen. Ihre Muskeln schmerzten von der Anstrengung, und sie kniff die Augen fest zusammen.
    Sie war noch gar nicht wach. Sie schlief.
    Sie wartete in der Hoffnung, es würde ihr gelingen, sich selbst zu täuschen.
    Eine Minute verstrich.
    Zwei.
    Sibyl presste mit einem Stöhnen ihre Handkanten gegen die Stirn, um gegen einen dumpfen Schmerz anzukämpfen, der seit dem vergangenen Abend ihren Schädel fest im Griff hatte. Es hatte keinen Sinn. Sie war wach. Draußen wartete die Welt oder zumindest die Welt im Erdgeschoss. Sibyl rollte sich auf die Seite, ein Sonnenstrahl fiel auf ihre Wange und wärmte ihre Haut, während sie die Decke über ihrer Brust zusammenknüllte. Sie schloss noch einmal die Augen, um den verhassten Tagesanbruch hinauszuzögern.
    Sibyl hatte das Gefühl, nicht mehr als eine Viertelstunde geschlafen zu haben. Ihre Arme waren bleischwer vor Müdigkeit, die Fäuste lagen geballt unter ihrem Kinn. Selbst ihre Fußsohlen fühlten sich müde an. Mühsam zog sie ihren Körper aus dem warmen Nest ihres Bettzeugs hervor. Mit geschwollenen Augen schaute sie durch das Bleiglasfenster ihres Erkerfensters über die blinkende Oberfläche des Charles River.
    Die nackten Füße in den Boden gepresst, kämpfte sie sich in ihren Morgenrock, verhedderte sich mit einem Arm in einem zarten Ärmel, ein paar Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. Sie konnte sich kaum daran erinnern, um welche Uhrzeit sie nach Hause gekommen waren. Jedenfalls vor Morgengrauen, allerdings nur kurz davor. Als sie hinter ihrem Vater durch den Hintereingang gestolpert war, hatte sie das erste Zwitschern der Spatzen gehört, die an der Fassade des Stadthauses nisteten. Ein paar der winzigen gefiederten Tiere flatterten unter dem Efeu und brachen aus dem Blattwerk hervor, um durch die nächtliche Luft zu segeln, aufgeschreckt durch das laute Öffnen der Hintertür.
    » Das Geräusch des Morgens « , murmelte ihr Vater vor sich hin, bevor er die Tür hinter sich schloss.
    Sibyl schlurfte müde in den Waschraum, den sie sich früher mit Eulah geteilt hatte, beugte sich über die klauenfüßige Badewanne, die Helen ausgesucht hatte, und drehte den Hahn mit dem heißen Wasser auf. Wie hatte sich Helen damals bei der Einrichtung so sicher sein können, dass sie zwei Töchter bekommen würde, die eine Badewanne mit Klauenfüßen brauchten? Es war, als

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