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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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Sänftenträger nicht mit der Beißzange anfassen würde. «
    Lannie schaute ihn entsetzt an, bis er sah, dass der Student lächelte.
    » Jetzt warte doch mal « , protestierte Lannie. » Sag mir wenigstens deinen Namen. «
    » Ich würde mir lieber die Zunge aus dem Leib schneiden, als meinen Familiennamen aus dem schmutzigen Mund eines Barbaren zu hören « , bellte der Student. Doch Lannie merkte, dass er ihn eigentlich nur auf den Arm nahm.
    » Jetzt komm schon « , drängte Lannie ihn. » Immerhin hab ich einen Zahn verloren, verdammt noch mal. « Der kleine Fluch ging ihm leicht über die Lippen. Er grinste und wusste, dass seine Zähne vom Blut rot verfärbt waren.
    Der Student schüttelte den Kopf. » Ist zu schwer für dich. Es sei denn, du kannst die Sprache von hier. « Er hielt inne. » Sagen wir, ich heiße Johnny. Das wird genügen. «
    Er streckte ihm eine Hand hin – in Nachahmung der forschen amerikanischen Begrüßung –, und Lannie nahm sie. Der Händedruck des Mannes war kräftig und trocken.
    » Lan « , sagte er und sie drückten beide einmal fest zu.
    » Lan « , wiederholte Johnny sarkastisch. » Ich spreche nämlich Englisch, weißt du. Meinetwegen musst du dir keinen erfundenen chinesischen Namen ausdenken. «
    » Es ist eine Abkürzung « , erwiderte Lannie, leicht verwirrt. » Von Harlan. Mein Vater heißt auch Harlan, deshalb haben sie mir der Einfachheit halber gleich die gekürzte Form gegeben. «
    Die Erklärung kam ihm irgendwie blöd vor, umso mehr, als er sah, dass Johnny, oder wie auch immer er hieß, sogleich jegliches Interesse an den neuenglischen Traditionen der Namensgebung verloren hatte.
    Nach einer Weile begann Lannie endlich zu ahnen, wohin sie unterwegs waren. Seine Kenntnisse der Stadt waren rein schematisch, beruhten nur auf Anekdoten, die man sich an Bord erzählt hatte, während sie sich dem Hafen näherten, Geschichten voller Übertreibungen und Missverständnisse. Aus diesen Bruchstücken wusste er, dass das alte Zentrum der Stadt von undurchdringlichen Festungsmauern umschlossen war, wie sie sich früher durch das gesamte Land gewunden hatten. Indessen gelangten sie am Ende einer schmalen Gasse, die mit Lampions und Leinen voller Wäsche geschmückt war, an eine imposante Steinmauer.
    » Nanshi « , sagte der junge Student. » Die Stadtmauer. Komm. «
    Der Zipfel eines zum Trocknen aufgehängten Bettlakens streifte Lannie am Kopf, als er darunter hindurchging. Vor ihnen ragte die Mauer bis zum Himmel auf, so uralt und zeitlos wie eine Felswand oder der Ozean selbst.
    » Dreihundert Jahre alt « , erklärte Johnny stolz, als er sah, dass Lannie vor Staunen der Mund offen stand.
    Lannie hatte immer das Gefühl gehabt, selbst aus einem altehrwürdigen Ort zu stammen. Salem war eine Stadt, deren Gründung schon lange zurücklag und in deren Straßen Geister ihr Unwesen trieben. Als er noch ein Junge war, hatte ihm seine Mutter von Hexen erzählt, die nichts lieber taten, als ungehorsame Kinder am Spieß zu braten, und auch wenn er wusste, dass es sich dabei um reine Gruselgeschichten handelte, war er doch mit dem Gedanken aufgewachsen, dass die Last vieler Generationen auf seinen Schultern lag. Er trug diese Bürde mit einer Mischung aus Stolz und Beunruhigung, die manchmal fast an Irritation grenzte. Jede Wahl, die er traf, schien vom skeptischen Blick seiner Vorfahren bewertet zu werden, Menschen, denen er nie begegnet war, deren Erinnerung jedoch nicht beschmutzt und deren Erwartungen an ihn nicht enttäuscht werden durften. Manchmal sträubte sich Lannie innerlich dagegen, dass seine Zukunft davon abhängen sollte, dass der vermeintlichen Ehre der Vergangenheit Genüge getan wurde. Andererseits schenkte ihm genau dieses Ehrgefühl, was seine Entscheidungen anging, oft genug willkommene Klarheit.
    Nichts in Salem konnte mit dieser Mauer mithalten, was Alter und Würde anging, eine Mauer, die das alte Shanghai vor dem Einbruch des Neuen beschützen sollte. Natürlich standen auch in seiner Heimatstadt ein paar altmodische Häuser herum, die von ärmeren Menschen bewohnt wurden, dunkle, feuchte Gebäude, die dicht gedrängt nebeneinanderstanden und den Gestank von zweihundert Jahren verströmten, eine Mischung aus Mäusekot, Schweiß, Holzfeuer und Tünche. Doch als in Neuengland noch Wildnis herrschte, war diese Mauer hier bereits über hundert Jahre alt gewesen. Lannie fühlte sich angesichts des Gemäuers klein und unbedeutend, ein Rinnsal inmitten des

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