Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Schminke rannen.
»Nach allem«, schluchzte sie, »muss ich auch das noch erleben! Ulysses’ Sohn erkennt mich nicht!«
In größter Erregung und Verlegenheit blinzelte ich die schluchzende Alte an. Ihr Schmerz musste ehrlich sein, denn sie kümmerte sich nicht darum, dass ihre Tränen die Farbe auf dem ehrwürdig faltigen Gesicht verschmierten. Ich sah dieses bemalte, larvenartige Gesicht an, dann blieb mein Blick an den schönen und sinnlichen Gesichtszügen der Marmorstatue hängen. In diesem Augenblick wurde die peinliche Ahnung, die ich hatte, zur Gewissheit … trotzdem war unglaublich, was ich sah.
Helena war es, die da vor mir weinte. Ich zweifelte nicht mehr daran. Die Frau, von deren Erlebnissen die Sänger und Geschichtenerzähler bis über die Schulen Spartas hinaus erzählten! Die Weitberühmte, die so oft geraubt und dann immer zurückgegeben oder zurückgeraubt worden war. Die Weißbusige, für die die Männer in blutige Kämpfe gezogen waren, einander das Fell über die Ohren gezogen und sich gegenseitig zerstückelt hatten! Die Grande Dame des Heiligen Krieges schluchzte hier vor mir … dieses bis zur Unkenntlichkeit entstellte Ideal, von dem ihr Mann – gewiss, in stark betrunkenem Zustand – gerade gesagt hatte, dass der Krieg um Troja nicht vergeblich gewesen sei, denn Helena sei jetzt wie ausgewechselt! Mit vorsichtigen Blicken suchte ich Ähnlichkeiten zwischen dem aufreizend verführerischen jungen Frauengesicht der Marmorstatue und dem von Tränen und Schminke, Erlebnissen und Leidenschaften völlig entstellten Altfrauengesicht. Mich schauderte, denn ich begriff zum ersten Mal, dass bei allen Gefahren, die im Laufe des irdischen Daseins auf ein menschliches Wesen warten, die Gewöhnlichste dieser unsichtbare und hinterhältige, unbezwingbare Feind war: die Zeit!
Helena weinte vornehm, aber greisenhaft. Ihre Schultern hingen herab, ihre Unterlippe zitterte und ließ ihre lückenhafte Zahnreihe sehen. Als der Anfall sentimentaler Schwäche vorüber war, puderte sie sich die Nase mit Reispulver. Mit einem Spitzentaschentuch trocknete sie vorsichtig die von Tränen verschleierten, angemalten Augen und winkte mich mit einer matten Bewegung neben sich. Ich eilte zu ihr und kniete vor ihr nieder. So sah ich – etwas angeekelt, aber ergriffen und mit schlechtem Gewissen – dem berühmten göttlichen Weib in die zauberhaften Augen. Denn dieses weibliche Augenpaar war auch jetzt, da es aus dem baufälligen Gefängnis des Alters in die Welt blickte, voll von klugem Glanz. Traurig lächelte sie. Sie spürte meine aufrichtige Verzweiflung und streichelte mir mit duftenden, runzligen Händen das Gesicht.
»Verzeih mir!«, stammelte ich.
»Da gibt es nichts zu verzeihen.« Ihre Stimme klang resigniert und traurig. »Du bist jung und hast die Wahrheit ausgesprochen. Steh auf!«, befahl sie. »Setz dich hin!« Ich setzte mich zurück auf das Taburett, auf dem ich zuvor Menelaos’ Selbstbekenntnis angehört hatte. »Zeig dich!«, sagte sie ernst, griff mir mit zwei Fingern unters Kinn und drehte mein junges Gesicht zur Helligkeit des untergehenden Lichtes hin. So prüfte sie mich. Dann ließ sie mich los und seufzte tief.
»Die Zeit«, sagte sie erhaben, und die pomadige, angemalte, alte Frau wurde beinahe schön, als sie diese Worte aussprach, »hat kein Erbarmen mit den Lebenden. Aber sie hat auch kein Erbarmen mit den Legenden. Wir, die wir nach dem Willen der Götter ein außergewöhnliches Schicksal geschenkt bekommen haben, müssen die große Strafe ertragen: die Vergesslichkeit, mit der sich die ungetreue Welt von unserem Gedächtnis abwendet.«
Jetzt schnaufte sie nicht mehr schwer. Ihre große Vergangenheit, ihr besonderer Rang schienen für einen Augenblick ihr wahres Wesen zurückgezaubert zu haben. Sie legte die Beine übereinander, und ihre Unterschenkel blitzten zwischen den Falten hervor. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass diese berühmten Beine noch immer wohlproportioniert und zwar von Krampfadern verunziert, aber weiß wie Alabaster waren.
»Wo ist dein Vater jetzt?«, fragte sie vertraulich und zwinkerte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich leise ebenso komplizenhaft. »Das Ziel meiner Reise ist, ihn zu suchen. Deshalb hat mich meine Mutter in die Welt geschickt. Wenn du etwas weißt, göttliche Helena …«
Ich sah, dass diese Anrede der edlen Vettel guttat. Milder blinzelte sie mich an, seufzte dann und sagte klagend:
»Ich habe ihn nicht gesehen, seit Jahren und
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