Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Palamedes’ Verhängnis. Ich habe alles gesehen und erlebt, Junge, was ein Mensch sehen und erleben kann!« Er hickste. Seine prahlerische Rede riss immer öfter ab.
»Ich habe den nervösen Achilleus gesehen, wie er seinen braven Diener Mnemon tötete, den ihm noch sein Vater gegeben hatte, damit er ihn an seine Pflichten erinnert! Wie erbärmlich ist der Mensch, selbst wenn er ein Held ist!«, rief der Heerführer in Erinnerungen, hob die Hand und legte sie sich über die Augen. »Ich habe Iphigenie gesehen … Genug!« Seine Worte klangen wie Röcheln.
Ergriffen schwiegen wir.
»Natürlich gab es in diesem langen Krieg bedauerliche Missverständnisse«, sagte er unvermittelt sachlich und nüchtern. Der Sturm der Gefühle in seinem Busen schien verebbt zu sein. Er sprach fachmännisch, und obwohl er dabei immer wieder einen Schluck von dem Wein nahm – was in den frühen Abendstunden vor dem Abendessen sogar für den trainierten Kämpfer ein gefährliches Vergnügen sein musste! –, sah er nicht betrunkener aus als zu der Zeit, als ich ins Zimmer gekommen war. »Beim großen Aufmarsch hat mein Heer die Stadt Theutrania mit Troja verwechselt, und wir haben diese unschuldige Stadt vernichtet«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Leider ist die Militärkartenzeichnerei noch nicht ganz perfekt, und Palamedes hat vergessen, sich mit dieser Wissenschaft eingehend zu beschäftigen. Solche Missverständnisse kommen in großen Kriegen gelegentlich vor.« Er winkte großzügig ab. »In Theutrania haben wir alle getötet, auch die Greise und Säuglinge. Später, als sich der Irrtum herausgestellt hatte, ordnete ich ein Opfer für die Seelen der Toten an, und so kam dann alles in Ordnung«, sagte er zufrieden. Dann lächelte er und fuhr in näselndem Ton fort: »Ich habe auch viel Sonderbares gesehen. Ich überlege noch, ob ich in meinen Memoiren erwähnen soll, wie eigenartig sich meine heldenhaften Gefährten bisweilen verhalten haben. Soll ich davon sprechen, dass Achilleus, der gern Mädchenkleider trug, Priamos’ Sohn, den edlen Troilos, vielleicht nur deswegen töten ließ, weil er nicht ganz natürliche, zärtliche und unmännliche … oder vielleicht übermäßig männliche, wer weiß? …, also, weil er sonderbare Gefühle hegte für diesen anmutigen Feind? Hm!« Er kratzte sich den Bart. »Ich werde sehen.« Er lächelte hämisch, doch dann wurde er wieder ernst. »Aber all das, Junge, ist nichts im Vergleich zu Palamedes’ Schicksal!«, rief er und bedeckte seine Augen wieder mit der Hand. Greisenhaft, wie mit Altweiberstimme, begann er zu schluchzen.
Die Diener standen ruhig dabei und warteten, bis die Erschütterung ihres Herrn zu Ende war. Offensichtlich waren sie Menelaos’ Weintrinken am frühen Nachmittag und die damit einhergehenden Gefühlsausbrüche gewohnt.
»Beim Sturm auf Lyrnessos«, sagte Menelaos dann schnüffelnd, wischte sich die Augen und schnaubte sich die Nase aus, »hat dein Vater meinen Bruder Agamemnon überredet, Palamedes zurückzurufen und töten zu lassen. Er redete ihm ein, Palamedes hätte das griechische Heer an Troja verraten und mit Achilleus gemeinsame Sache gemacht, um den Oberbefehl zu erringen. Mein Bruder war mutig, aber unberechenbar. Außerdem war er kein besonders guter Menschenkenner. Er vertraute niemandem außer seiner Frau Klytaimnestra«, sagte Menelaos bitter und zufrieden, »deshalb haben sie ihn auch abgestochen wie ein Stück Vieh. Aber Palamedes hat das auch nicht mehr geholfen.«
Er nickte. Sein Kopf mit den geflochtenen Locken sank ihm auf die Brust. Als wäre er müde geworden, murmelte er zusammenhangslos:
»Es war die Schuld deines Vaters. Das verzeihe ich ihm nie. Ich habe Palamedes geliebt. Er war mehr als ein Held.«
Er öffnete die Augen und sagte mit dem letzten Verstand seines weinseligen Hirns:
»Ein Weiser war er. Er sah den Augenblick voraus, in dem die Helden zu Feiglingen werden. Und den anderen Augenblick, in dem die Feiglinge zu Helden werden.«
Mühsam nahm er sich zusammen. Noch einmal streckte er die Hand aus. Aber er hatte nicht mehr die Kraft, das Getränk an die Lippen zu führen. In seiner zitternden Hand kippte der Becher um, und die feurige Flüssigkeit strömte über seinen bunten Kaftan. Als hätte er vergessen, das Wichtigste zu sagen, reckte er den zitternden Zeigefinger hoch und rief heiser, mit versagender Stimme:
»Der Krieg um Troja war dennoch nicht ganz vergeblich. Die Tugend meiner Frau strahlt heute noch.
Weitere Kostenlose Bücher