Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Jahrzehnten habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ab und an gelangen auch in dieses spartanische Provinznest Nachrichten über ihn. Aber niemand weiß etwas Gewisses. Ist er noch immer unterwegs? Er kann auch nicht mehr jung sein.« Aus ihren Worten klang eine sonderbare, hämische Befriedigung. Mit zahnlosem Mund zählte sie leise. »Die Zeit ist grässlich«, sagte sie dann und schüttelte sich, als bekäme sie eine Gänsehaut vor Abscheu. »Sie ist stumm und unbarmherzig, und es gibt keine Waffe gegen sie … Dein Vater, der listige, wird ebenso ihr Opfer sein wie sein Waffengefährte, den du gerade in weinseligem Schnarchen vor sich hin brüten sahst … ja, wie mein unübertrefflicher Mann Menelaos.«
»Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«, fragte ich eifrig.
»Deinen Vater?« Helena zog die rot angemalten Augenbrauen zusammen. »In dem Augenblick, als der Krieg zu Ende war und mein edler Mann mich steinigen wollte.«
»Was sagst du, Weißbusige?«, fragte ich entgeistert. Mir standen alle Haare zu Berge. »Dein Mann, der in den Krieg gezogen ist, um deinen Ruf zu verteidigen, wollte dich am Ende steinigen? Der große Mann, der gerade noch mit solcher Achtung und Begeisterung von deiner Tugend gesprochen hat, hatte es auf dein Leben abgesehen? Verzeih mir, ich bin noch sehr jung«, sagte ich verzweifelt. »Ich muss mich erst an die Weltgeschichte gewöhnen.«
Helena nickte verzeihend.
»An den Haaren hat er mich gezogen«, sagte sie einfach. Mit den Händen brachte sie ihre Perücke in Ordnung, als hätten sich ihr bei der bloßen Erinnerung die künstlichen Locken gesträubt. »Ich lag auf der Erde, und mein edler Mann zerrte mich an den Haaren, als er mich aus den Mauern von Troja befreit hatte. Er drohte mir, mich zu töten, wenn wir einmal in dieses tugendsame und schreckliche Provinznest Sparta zurückgekehrt wären. Auch Hekate, die abscheuliche und eifersüchtige Tante deiner hehren Mutter, die in der Unterwelt wohnt, bestärkte ihn in dieser Absicht. Aber sie musste ihn nicht überreden. Mein Mann und noch einige rohe griechische Grobiane gingen mit Steinen auf mich los. Ich wäre verloren gewesen, hätte nicht meine Schönheit mich beschützt und dein Vater mir geholfen.«
»Mein Vater hat dich gerettet?«, fragte ich voller Sohnesfreude. Mein Herz schlug höher, weil ich endlich auch etwas Gutes über meinen geheimnisvollen Vater hörte.
»Ja«, sagte Helena feierlich. »Er trat in dem Augenblick für mich ein und wehrte mit geflügelten Worten, seinem großartigen Auftreten und den pfiffigen Ideen seines erfindungsreichen Verstandes die Gefahr ab, die über meinem Haupt schwebte. Leider ist er dann aus meinem Leben verschwunden. Die Welt rief ihn. Das habe ich ihm verziehen. Ich mag es, wenn die Männer, mit denen ich es zu tun hatte oder habe, Erfahrungen sammeln. Was ich ihm nicht verziehen habe, war, dass ihn auch die Heimat rief. Er bestand weitere Abenteuer und ging dann nach Hause zu seiner Frau. Diese Frau mag ich nicht«, sagte sie vertraulich, wie zu sich selbst. »Penelope ist eine entfernte Verwandte von mir, sie stammt von hier, und in unserer Jugend waren wir viel zusammen. Wir haben im Eurotas gebadet, und ich weiß, dass ihre Figur nicht vollkommen ist, sie hat Sommersprossen auf dem Rücken und gelbliche Zähne. Sie gibt sich gern vornehm, in Wirklichkeit ist sie jedoch gemein, geistlos und provinziell. Ich mag es überhaupt nicht, wenn die Helden, mit denen mich der Wille der Götter auf der irdischen Bahn zusammengebracht hat, verheiratet sind.« Sie seufzte. »Dein Vater ist dennoch heimgekehrt zu dieser Frau. Später habe ich mit einer gewissen Genugtuung gehört, dass er nicht in den Armen seiner dörflichen Hausfrau geblieben ist. Aber das änderte nichts mehr an der Tatsache, dass aus meinem Leben der einzige Mann verschwunden war, dem ich mich in einer gewissen verschwörerischen und heiteren Vertraulichkeit verbunden fühlte. Ich blieb allein mit meinem großartigen und fürchterlichen Mann, den du vorhin gesehen und gehört hast«, sagte sie erhaben. »Wir außergewöhnlichen Menschen, die wir in der Geschichte leben, können mit den kleinen Schwächen unseres Privatlebens nie nachsichtig genug sein. Die Rolle, die wir spielen müssen, ist übermenschlich schwer. Jedenfalls habe ich einen Mann geheiratet, der älter war als ich. Dann hat mich ein Mann geraubt, der jünger war als ich. Zwischen dem alten Mann und dem Jugendlichen steht dein Vater lebendig am Horizont
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