Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
großen Schlucken, wie jemand, der nicht genug Betäubungsmittel gegen seine Erinnerungen nehmen kann.
»Die historische Tatsache«, sagte er feierlich und ernsthaft, »die ich der Nachwelt in meinen Memoiren nicht verschweigen darf, lautet, dass Palamedes gemeinsam mit Achilleus – der später seine Feigheit doch noch bekämpfte und in den Kampf eintrat – nach und nach dreiundzwanzig kleinasiatische Städte eingenommen hat. Bedenke nur, Junge! Während das Genie und sein Gefährte, der Held mit dem Mädchengesicht, in der Ferne kämpften, gelang es deinem Vater, die heerführerliche Eifersucht meines edlen Bruders zu wecken. Sie wurden Komplizen, und auch Agamemnon nahm an dem Anschlag teil, dem mein bester Kampfgefährte zum Opfer fiel. Der große Erfinder und erfolgreiche Feldherr wurde zum Tode verurteilt und gesteinigt! Mit falschen Beschuldigungen trachteten sie ihm nach dem Leben. Das ist die Sünde deines Vaters, Junge!« Menelaos zeigte mit einer anklagenden Bewegung auf mich. Ich wurde blass, bemühte mich aber, ruhig zu bleiben und mir nichts anmerken zu lassen. »Der Held, der Eroberer von dreiundzwanzig Städten, wurde ermordet! Der Weise, der wusste, dass man sich gegen die Pest am wirksamsten verteidigte, indem man zu regelmäßigen Zeiten sein Essen einnahm! Der großartige Armeelieferant, der noch aus den Scheunen der geizigsten Bauern Korn heraustreiben konnte! Der maßvolle Mann, der herausfand, dass man Wein und Wasser am besten im Verhältnis zwei zu fünf mischt. Das war vielleicht seine einzige Erfindung, mit der ich nicht einverstanden bin.« Nachdenklich und etwas ärgerlich langte Menelaos mit zitternder Hand nach einem bis zum Rand mit unverdünntem Wein gefüllten Becher.
»Mein Sohn«, sagte er dann, »du wolltest die Wahrheit hören. Jetzt hast du sie gehört. Palamedes’ Tod war dennoch nicht nutzlos. Er war ein Wink für die Demokratie, dass die Rechtlosigkeit auf jene Gesellschaft zurückfällt, die sie duldet! Dein Vater macht nicht ohne Grund einen Bogen um die spartanische Erde. Das Volk erinnert sich und urteilt. Ich habe viel Schreckliches erlebt in meinem hehren, fürchterlichen Leben.« Feierlich hob er die Stimme. »Ich habe Achilleus gesehen, wie er am Knie verletzt wurde. Ich habe Hektor gesehen, wie er allein vor Trojas Mauern stand und sein Schicksal erwartete. Ich habe den Augenblick erlebt, als Zeus das Schicksal dieser beiden Helden auf die Waage legte, und ich habe gesehen, wie Hektors Waagschale zu sinken begann. Ich war dabei, als Aias verrückt wurde und sein Leben wegwarf, weil ihm dein Vater mit flinkem Hirn und gieriger Hand Achilleus’ Waffen weggeschnappt hatte. Ich habe im Bauch des Holzpferdes gehockt und es geschehen lassen, dass mir dein Vater mit rauer Hand den Mund zuhielt, als meine hehre Frau, deren weibliche Tugend und Ruf nach wie vor unversehrt waren, in Gesellschaft eines weiteren lüsternen Bengels, des frechen Deiphobos, um das Pferd herumging und mit gurrender Stimme nach mir rief. Ich habe alles erlebt, was ein Mensch in den schrecklichen Stürmen der Geschichte erleben kann. Ich habe Patroklos’ Leiche mit Ambrosia gesalbt, weil sie schon zum Himmel stank, und gesehen, wie Achilleus an der Bahre seines Freundes zwölf trojanische Jungen geopfert hat. Ich habe die schreckliche Szene gesehen, wie Achilleus dem toten Patroklos sein abgeschnittenes Haar geschenkt hat, weil er wusste, dass er nach dem Willen der Götter dafür keinen Bedarf mehr hat, weil er ja nie heimkehren würde. Ich habe gesehen, wie Achilleus die Leiche des edlen Hektors geschändet hat. Ich sah die Pest, wie sie Tausende meiner Helden krepieren ließ. Ich habe deinen Vater gesehen, wie er sich im Augenblick der Schlacht vor der wutentbrannten Menge gefürchtet hat …«
»Gefürchtet?«, fragte ich missgelaunt. Ich wusste selbst nicht warum, aber diese Beschuldigung erfüllte mich mit Widerwillen.
»Ich war es, der ihm das Leben gerettet hat«, sagte der Heerführer und zuckte mit den Schultern. Er hatte häufig zum Becher gegriffen, in seine Worte mischten sich schon manchmal die Rülpser des Betrunkenen. »Ich habe ihn vom Schlachtfeld geschleppt. Glaubst du, er war dankbar? Durch Machaon, meinen besten Arzt, der auch meine Wunden behandelte, ließ ich ihm einen erfrischenden Heiltrank reichen, damit er vom Todesschreck wieder zu sich kommen sollte. Aber auch damals kreiste sein bösartig verschraubter Verstand nur um die Beute, Achilleus’ Waffen und
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