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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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wie einen körperlichen Schmerz. Genau betrachtet war es ja tatsächlich ein körperlicher Schmerz. Und er linderte ihn auf eine pubertäre, unreine, einsame Weise, einsam durch und durch.
    Er stand auf dem Bahnsteig in Chicago, als sie in einem Wirbel aus Gepäckträgern, Koffern und trappelnden Schritten aus dem Zug stieg - die Lokomotive spuckte Funken und Asche, Dampf stieg auf, Tauben schwebten herab wie gefiederte Schneeflocken, Menschen riefen, Familien waren wiedervereint, Liebespaare sanken sich in die Arme, sogar zwei Schäferhunde umtanzten einander schwanzwedelnd, doch sie schien ihn zunächst gar nicht zu erkennen. Mit ausgreifenden Schritten, hoheitsvoll und zugleich schamlos sinnlich, ging sie den Bahnsteig entlang, die schwarzen Gepäckträger mussten sich beeilen, um nicht zurückzubleiben, und Männer sahen reihenweise von ihren Zeitungen und Zigarren auf, so dass es war, als hätte ein fallender Dominostein eine Kettenreaktion ausgelöst. Er spürte, wie das Blut aus seinen Gliedern wich und zu jenem einen zentralen Punkt strömte: Er kannte diese Augen, diese Gliedmaßen, diese Brüste - aber kannte sie ihn nicht mehr? Erkannte sie ihn nicht? Er machte einen Schritt auf sie zu, sein Selbstvertrauen schmolz dahin, und er fragte sich, ob sie noch immer einen Groll gegen ihn hegte. Oder waren es ihre Augen? Sie war in einem Alter ... und die Lorgnette war wohl mehr als nur ein Accessoire ... »Miriam!« rief er mit vor Erregung brüchiger Stimme, trat hinter einer Mauer namenloser, unter der Last ihrer billigen Koffer gebeugter Männer hervor und machte sich weithin sichtbar, den Stock hoch erhoben, eingehüllt in die fließenden Falten seines Umhangs. Sie hielt inne. Wandte sich ihm zu. Er riss sich die Baskenmütze vom Kopf und schwenkte sie wild. Und dann? Dann lag sie in seinen Armen.
    »Wie war die Reise?« fragte er und führte sie hinaus auf die Straße und zum Wagen, gefolgt von den Gepäckträgern, und durch die offenen Türen strömte die heiße Sommerluft.
    »Ach, Liebling, frag lieber nicht.«
    »So schlimm?« Er versuchte ein Lächeln, versuchte, eine Atmosphäre der Leichtigkeit zu erzeugen, doch sein Blut strömte heiß: ihre Berührung, ihr Duft ...
    »Hitze«, sagte sie, ohne das Tempo zu verlangsamen, und wies die Neger an, wie sie ihr Gepäck in den Wagen zu laden hatten. »Wie hier. Eine Hitze wie diese. Nur schlimmer. Dieser Staub, dieser ewige Staub, und die Leute waren so rücksichtslos und - ich muss es leider sagen - so dumm, so dumm und gedankenlos, die Fenster Tag und Nacht offenzulassen. Insekten. Ich könnte eine Abhandlung über die Insekten des Westens und des Mittleren Westens schreiben. Aber lass uns nicht von mir sprechen - sprechen wir von dir. Du siehst dünner aus. Oder vielmehr dicker. Eindeutig dicker um die Taille. Hast du zugenommen? Ist das Leben auf dem Land« - und hier schenkte sie ihm ein erstes Lächeln - »so erholsam? Wolkenloser Himmel, die Bäume voller Saft, das sanfte Schaukeln der Hängematte? So ungefähr?«
    Und gleich war er in Fahrt, kam in seinen eigenen Rhythmus wie ein Jockey, der sein Pferd auf der Geraden laufen lässt, verbreitete sich über die statischen Probleme, mit denen sie zu kämpfen hätten, die Unzuverlässigkeit der Arbeiter, die Struktur der Steine, die gebrochen würden, und die Qualität des Holzes, das die Sägemühle liefere, ganz zu schweigen davon, dass noch alles im Fluss sei und er täglich Änderungen vornehmen müsse, und natürlich erzählte er von Paul Mueller und seinen Ideen und den Japanern, deren Briefe immer herzlicher würden, und davon, wie sicher er sei, dass das große Projekt tatsächlich verwirklicht werden würde. Sie waren schon halb durch die Stadt, bevor sie ihn unterbrach. »Und«, sagte sie und warf ihm unter der breiten, blumenverzierten Krempe ihres Hutes hervor einen koketten Blick zu, »habe ich dir gefehlt?«
    O ja, sie hatte ihm gefehlt. Unentwegt. Wieder schoss das Blut in seinen Unterleib. Und sogleich hub er zu der nächsten Rede an, mit all der Wortgewandtheit und spontanen Eleganz, die er von seinem Vater, dem Prediger, geerbt hatte.* Er bezichtigte sich selbst, bat sie um Geduld und Vergebung, schwor ihr Liebe und Treue und zählte alle möglichen Entschuldigungen auf, als sie ihn erneut unterbrach. »Das ist ja alles ganz gut und schön«, sagte sie und erhob ihre Stimme über das Dröhnen des Motors und das Kläffen einer Promenadenmischung, die den Wagen seit eineinhalb Blocks

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