Die Frauen
zugestochen, jawohl, das hätte sie, und sie hätte sich mit Freuden ins Gefängnis La Santé werfen lassen, wenn er nur lange genug stillgestanden hätte. Und dann die Sache mit ihrer Katze. Mr. Ribbons - oder vielmehr Monsieur Ribbons, wie sie ihn nannte, wenn sie an der Tür stand und ihn rief und zusah, wie er, den Schwanz hoch erhoben, über die Straße lief und zu ihr kam. Als er Blut gespuckt hatte, war ihr Verdacht sofort auf die griesgrämige, widerwärtige Frau mit dem Pferdegesicht gefallen, die unter ihr wohnte: Die hatte ihn bestimmt vergiftet, und deswegen war es zu einem weiteren bedauerlichen Vorfall gekommen, obwohl der Tierarzt ihr versichert hatte, dass das Tier eines natürlichen Todes gestorben sei. Ja. Ganz bestimmt. Eines natürlichen Todes. Was wohl sonst? Bei dem Gedanken daran warf sie über den Rand ihrer Lesebrille hinweg einen scharfen Blick auf den Ober, den dieser allerdings ignorierte. Wo blieben ihre Eier? Musste man sie erst aus der Provinz holen? Brauchte es einen prämierten Küchenchef, um einen Topf Wasser zum Kochen zu bringen und ein paar Tomaten zu schneiden und zu dünsten?
Sie war verärgert, und das hätte sie jederzeit bereitwillig zugegeben. Es lag an diesem Krieg, an der Ungewissheit, den Gerüchten. Jeder sagte, er werde in sechs Monaten beendet sein, aber was, wenn es nicht so war? Was, wenn die Deutschen durchbrachen und in Paris einmarschierten? Wenn es Engpässe und Rationierungen gab? Würden die Cafés dann leer sein? Würde die Zimmerwirtin die Miete erhöhen? Sie überlegte, ob sie nach Chicago, zu Norma, zurückkehren sollte, doch dieser Gedanke war ihr in vielerlei Hinsicht zuwider, ja sie konnte die Gründe, die dagegen sprachen, kaum zählen. So viele ihrer Freunde - die amerikanischen und englischen jedenfalls - waren bereits abgereist: die Belknaps, Clarissa Hodge, die Payne Whitneys. Selbst Marie-Thérèse, ihre beste Freundin und Vertraute, war aufs Land gezogen und hatte sie verlassen, ausgerechnet jetzt, da sie eine Vertraute so dringend gebraucht hätte - nicht nur wegen René, sondern vor allem wegen der schleichenden Angst, die als eine Art Unwohlsein im Magen begann und sich dann bis hinunter zu den Zehen ausbreitete, um von dort hinaufzukriechen, bis sie im Genick angekommen war, die Angst, dass alles, was sie kannte und liebte, im Niedergang begriffen war und auf ein schreckliches Ende zusteuerte.
Der Ober schlurfte heran und stellte die schwere Steinzeugplatte auf den Tisch, als wäre sie ein Wettschein, den er in Auteuil über den Tresen des Schalters schob, verschwand dann wie ein Zauberkünstler und tauchte, eine frisch angezündete Zigarette im Mundwinkel, aus den Tiefen des Cafés wieder auf. Sie breitete die Serviette über den Schoß, rückte Zeitung und Lesebrille zurecht und machte sich über die Würstchen her. In diesem Moment fiel ihr Blick auf die Schlagzeile: SIEBEN TOTE IN TALIESIN. Und darunter: Mord im Liebesnest. Sie legte die Gabel beiseite und begann zu lesen. Die Geschichte war so schrecklich, so fesselnd, so entsetzlich, dass sie nicht anders konnte. Es war der Stoff zu einem Roman, und da war auch der Held der Geschichte, Mr. Frank Lloyd Wright, im Halbprofil, und starrte mit edlem Blick über die Weiten des Kontinents und des Ozeans. Das Frühstück wurde kalt. Der Kaffee blieb ungetrunken. Der Ober sah kein einzigesmal zu ihr herüber.
Sie las den Artikel zweimal und studierte dann lange Zeit das Foto. Ganz langsam und wie gegen ihren Willen schüttelte sie den Kopf, während der Tremor Wirbel um Wirbel ihr Rückgrat hinaufkroch, als drückten viele Finger zugleich auf ihre Haut.
Der arme Mann, dachte sie. Der arme, arme Mann.
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