Die Frauen
sie ihm gestohlen hatte). Doch damit nicht genug - sie hatte auch noch Forderungen gestellt. Und was hatte sie für ihr Stillschweigen verlangt? Dass sie sich trennten. Sie sollten sich trennen. Und einander nie mehr wiedersehen. In diesem Punkt war sie sehr spezifisch, die intrigante, arthritische, abgetakelte alte Hexe: »Das heißt, Sie dürfen sie weder in Taliesin noch in der Cedar Street wohnen lassen, Sie dürfen sie nicht besuchen und nicht mit ihr zusammenleben.«
* Zu diesem Zeitpunkt begann sich die öffentliche Meinung gegen sie zu wenden, was Wrieto-San Gelegenheit gab, sich großherzig zu zeigen und wegen des Diebstahls der Briefe keine juristischen Schritte gegen sie zu unternehmen. Dennoch hatte sein Ansehen Schaden genommen, und man betrachtete ihn als lüsternen, wenn nicht gar irgendwie lächerlichen Schürzenjäger.
Wenn das nicht Erpressung war, was dann? Miriam war schrecklich wütend auf Frank, weil er ihr - ganz gleich, wie wohlmeinend oder liebevoll seine Motive gewesen sein mochten - diesen Brief nicht gezeigt hatte, und konnte nicht fassen, wie dreist diese Frau war, bei der es sich doch immerhin um nichts weiter als eine gewöhnliche Diebin handelte. Als sie den Artikel sah, wurde sie fuchsteufelswild und warf die Zeitung quer durch den Raum an die Wand, so dass sie wie ein verwundeter Vogel auf dem Teppich landete.
Dort lag sie noch, als Miriam zu ihrem Schreibtisch ging, innerlich versteinert vor Hass, Abscheu und Empörung, und sie musste ein Glas Sherry trinken, um sich ein wenig zu beruhigen - doch wenn er überhaupt irgendeine Wirkung hatte, so merkte sie in ihrem gegenwärtigen Zustand nichts davon. Sie war inzwischen zurück in Chicago, wenigstens das: Sie hatten am Morgen, nachdem das Foto ihrer verblühenden Doppelgängerin erschienen war, den Zug genommen (»Jetzt gibt es keinen Grund mehr, mich zu verstecken, Frank«, hatte sie bissig bemerkt und sich fest bei ihm untergehakt, als sie, umgeben von hektischen Reportern und gaffenden Schaulustigen, den Bahnsteig entlanggingen), doch die Szenerie vor den Fenstern war so bedrückend, grau und trostlos wie in Wisconsin. Nun, ihr sollte es recht sein - das verstärkte nur ihre Stimmung. Und die war düster, sehr, sehr düster. Und blutdürstig.
Wie konnte sie es wagen, wie konnte diese frömmlerische Schabracke es wagen, ihr - oder sonst jemandem - irgendwelche Regeln zu diktieren? Wer hatte sie zum moralischen Vormund der Welt ernannt?
In der untersten Schublade, die sie vor Franks Zugriff verschlossen hielt, bewahrte sie das Briefpapier auf, das sie gegen seine Einwände bestellt hatte, und wo unter ihrer beider ineinander verschlungenen Initialen das Wappen der Hicks prangte. Sie nahm einen Bogen, legte ihn auf das Löschpapier, nahm einen weiteren großen Schluck Sherry und begann zu brüten. Dann griff sie zum Füllfederhalter - es war ein neuer Waterman, ein Geschenk von Frank, ein so glattes, zartes, hübsches Schreibinstrument, dass es wie ein zusätzlicher Finger war - und brachte, ohne weiter nachzudenken, ihre Gedanken zu Papier, als hätte sie ihr Leben lang Leserbriefe an Zeitungen geschrieben. Der eine Reporter - der mit der Glatze, an dessen Namen sie sich, sosehr sie sich auch anstrengte, nicht erinnern konnte - hatte sie an jenem Tag in Taliesin beiseite genommen und ermuntert, ihre Seite der Geschichte zu schildern. Ihre Philosophie, ihre Wünsche, etwas von ihr, das der Öffentlichkeit einen Eindruck vermittelte. Wer war sie hinter dem rätselhaften Bild, das sie präsentierte? - so etwas in dieser Art. Das wäre viel ergiebiger als alles, was er oder seine Kollegen schreiben könnten, denn dabei würde sie im Zentrum der Darstellung stehen, ein Mensch, der die wirkliche, tiefere Wahrheit kannte, nicht nur über Chicago und die vorgebliche Moral dieser Stadt, sondern auch über Europa.
Als sie wieder zu sich kam, hatte sie fünf Seiten geschrieben. Kaum ein Buchstabe tanzte aus der Reihe, ihre graziöse Handschrift füllte die Zeilen mit der ganzen Autorität und Eleganz, die Miriam als Mädchen an der Thornleigh Academy for Women den ersten Preis in Schönschrift eingetragen hatte. Sie sprach davon, dass die Ehe, jedenfalls die nicht von Liebe erfüllte, ein leeres, überkommenes Konzept sei, ein bloßer Abklatsch dessen, was eine wirkliche, liebevolle Verbindung sein solle, versicherte ihnen - ihrem Publikum, all den guten Menschen von Chicago und auch den kleinen Leuten, den Metzgern und Kutschern
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