Die Frauen
verzichtete ausnahmsweise auf die üblichen Präliminarien, es war, als säße sie bei ihr im Zimmer. »Es tut mir ja so leid!«
»Es tut dir leid? Was denn? Was ist passiert?«
Kurzes Schweigen, gerade lang genug, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte. »Hast du denn noch nicht in die Zeitung geschaut?«
»Nein. Heute noch nicht. Ich bin ein bisschen spazierengegangen, und dann, na ja, dann bin ich ... Was steht denn drin?«
Was drin stand, war ihr jetzt ins Hirn gebrannt, in achtzehn Punkt großen Lettern: TÄNZERIN BRINGT WRIGHTS KIND DER LIEBE ZUR WELT*. Bringt zur Welt. Kind der Liebe. Franks Kind der Liebe. 2920 Gramm. Ein Mädchen. Iovanna hatten sie es genannt. Was war denn das für ein Name? Iovanna, Olgivanna, russische Namen,
Namen mit süßlichen fremdländischen Suffixen, als wäre das hier ein Moskauer Vorort - aber wenn Miriam sich nicht täuschte, waren sie hier nicht in Moskau. Sie waren in Chicago, in den USA. Hier gab es keine Wolga, keine windigen Steppen, keine bolschewistischen Revolutionen - was dachte er sich bloß? Was dachte Frank sich bloß?
* Wie im folgenden deutlich werden wird, bediente sich die damalige Boulevardpresse bei der Berichterstattung über Wrieto-San und seine »Bekanntschaften« einer Art stenographischer Nomenklatur, denn seine Affären waren allbekannt, und die schmutzige Wäsche wurde, wie man so schön sagt, in aller Öffentlichkeit ausgebreitet.
Oh, sie hatte wohl gewusst, dass das kommen würde - sie hatte sich dagegen gewappnet, seit diese Ratte von einem Detektiv sie angerufen und ihr den Nachmittag, den Thanksgiving Day, den Herbst, den Winter, das Jahr ruiniert hatte -, aber dass es so weit kommen würde, billige Schlagzeilen, eine billige Sensation, ihr innerstes Wesen zum Gespött gemacht, das hätte sie sich nicht träumen lassen. Alle, die sie kannten, würden sich über sie lustig machen, Maude Miriam Noel, die Frau des Ehebrechers, die Frau, die den großen Architekten nicht befriedigen oder auch nur zufriedenstellen konnte, die ihm kein Kind schenken konnte, weil sie zu alt war, ihre besten Jahre hinter sich hatte, kaputt war, verstoßen und verlassen. Sie war der letzte Dreck. Sie war weniger als Dreck. Sie war ein Nichts.
Während sie die Zeitungen durchs Zimmer pfefferte und dann nach dem erstbesten Gegenstand griff - einer Vase, einer Hotelvase mit Trockenblumen, die sie rasend machten, ihr das Gefühl vermittelten, sie wäre selbst tot und vertrocknet -, allein um der Genugtuung willen, ihn an der Wand zerschellen zu sehen, wusste sie bereits, dass die Pravaz ihr keine Erleichterung verschaffen würde, nicht heute, nicht so, wie sie sich fühlte. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie ihr Gesicht im Spiegel überprüft und sich in ihren Pelz gehüllt hatte, und schon stand sie unten auf der Straße, und die Luft belebte sie wie eine Dosis Riechsalz. Mit einemmal eröffnete sich ihr die ganze Welt. Der Portier. Der Taxifahrer. Straßen, Tauben, überfrorener Schnee. Und wohin? Zum Krankenhaus. Zu dem in der Zeitung genannten Krankenhaus, in dem Mutter und Kind den Berichten zufolge wohlauf waren. Und sich erholten. In Ruhe erholten.
Sie würde ihnen zeigen, was Ruhe hieß, o ja, das würde sie, sie sah es schon vor sich, noch eine Szene wie die im Foyer des Hotels, und sie sollten nur kommen, die Reporter, sie sollten nur kommen. Ich will das Kind sehen! würde sie schreien, bis es in dem ganzen turmhohen Gebäude mit seinen glänzenden Fluren und abgeschirmten Räumen niemanden mehr gab, der sie nicht laut und deutlich hörte: Ich will das Kind meines Mannes sehen!
Kapitel 5
DIE RICHARDSONS
Ein penetranter Geruch nach Desinfektionsmittel - Karbol oder Franzbranntwein oder was immer es auch sein mochte - hing im Zimmer, lag über allem, würgte sie, bis sie kaum mehr atmen konnte. Die Rouleaus waren heruntergelassen. Ein dumpfes elektrisches Summen lag in der Luft, die Lampen flackerten, leuchteten heller, flackerten wieder. Säuglinge wimmerten. Tabletts klapperten. Irgendwo kochte jemand Tomaten, Rüben, Kohl. Und Fleisch. Fleisch, das nach Pfanne, Kühlschrank und Schlachthaus stank. Sie bat die Krankenschwester immer wieder, das Fenster zu öffnen, und die Krankenschwester sagte ihr immer wieder, sie solle sich ausruhen, sich erholen, sich keine Gedanken machen - was sie jetzt brauche, sei Erholung. »Machen Sie einfach die Augen zu«, säuselte die Krankenschwester mit ihrer unendlich sanften Stimme, »Sie wollen doch
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