Die Frauen
sich abwenden und von Mr. Jackson zum nächsten Stuhl führen lassen musste, ein Glas Wasser - »Würde ihr vielleicht jemand ein Glas Wasser holen!« -, aber sie hatte noch genügend Kraft, um sich ihnen ein letztes Mal zuzuwenden.
Ihre Augen standen voller Tränen, die Wimpern waren verklebt. Sie konnte die Gesichter nicht erkennen - sie waren völlig verschwommen -, doch etwas anderes tauchte in ihrem Blickfeld auf, eine flüchtige Erscheinung, eine Figur aus einem Traum, schwanger, mit rundem Bauch und vollen Brüsten und dem sanften, zufriedenen Lächeln der Madonna, einer falschen Madonna, einer russischen Madonna, unverheiratet und gefickt, gefickt, gefickt, und sie hörte sich mit blecherner Stimme aufschreien: »Ich will ihn wiederhaben! Ich will einfach nur meinen Mann wiederhaben!«
Am späten Abend saß sie in ihrem Zimmer und versuchte, die Geräusche, die von der Straße hereindrangen, auszublenden. Sie war zu erschöpft, um zu lesen, zu wach, um zu schlafen. In dem Zimmer über ihr ging jemand unablässig auf und ab. Sie hörte seltsame dumpfe Schläge in den Wänden, von irgendwoher leises Stimmengewirr, die langgezogene mechanische Qual des Aufzugs am Ende des Flurs - spielte der Liftführer mit einem Rosshaarbogen auf den Kabeln, um sie in den Wahnsinn zu treiben? War das eine Verschwörung? Sie rauchte eigentlich nicht - jedenfalls kaum, nicht mehr, denn Frank billigte es nicht oder hatte es nicht gebilligt -, aber jetzt rauchte sie eine Zigarette nach der anderen. Sie erhob sich vom Bett und trat ans Fenster, denn sie dachte, ein wenig frische Luft werde ihr guttun.
Lange stand sie dort am offenen Fenster, ohne die Kälte zu bemerken, lauschte dem Geheimcode der Automobile und Lieferwagen unter ihr, einer Sprache aus Quietschen und Klappern und dem Aufheulen hochgejagter Motoren, dann wälzte sich tosend wie eine Flutwelle die Trambahn durch die Straße. Ein Rasseln, ein Scheppern, eine Aggression. Und jetzt gönnte sie sich den Trost der Pravaz - ließ das Fenster offenstehen und wandelte Richtung Bad, wo sie ihr Etui aufbewahrte -, schon zum zweitenmal an diesem Abend. Im Lauf der letzten Tage hatte sie die Dosis nach und nach erhöht, was nicht ungefährlich war, wie sie wusste, aber sie war so abgespannt, so ausgelaugt und zermürbt, dass sie einfach nicht anders konnte.
Sie setzte sich auf die Bettkante und spreizte den Morgenmantel auseinander, um die Nadel ganz oben am Oberschenkel anzusetzen, wo das Mal - la tache - nicht sichtbar sein würde. Und auch hier war sie vorsichtig, denn sie hatte in Paris zu viele Frauen gekannt, die als Folge ihrer Gedankenlosigkeit ein Geschwür bekommen hatten - weil sie sich immer wieder an derselben Stelle gespritzt hatten, Gewohnheitstiere, ihre Nadeln stumpf, ihr Fleisch mürbe wie das einer faulen Frucht. Doch heute abend brauchte sie Trost. Es war ein schrecklicher Abend. Als sie vor diesen harten Männern mit ihren eselsohrigen Notizblöcken und zuckenden Stiften ausgerufen hatte, dass sie ihn wiederhaben wolle, Frank, ihren Mann, ihren Liebsten, hatte sie nicht gewusst, was sie da sagte, doch zugleich hatte sie gespürt, dass es stimmte. Er war ihr Mann. Sie hatten einander geliebt - all die Jahre hatten sie einander geliebt, hatten sich vor Liebe verzehrt, sich aneinandergeklammert in den schweißtreibenden Nächten Tokios, der knochentrockenen Klarheit von Los Angeles, dem Kühlhaus Wisconsin. Er war sanft gewesen, hatte sie verstanden, ihre Naturelle hatten übereingestimmt - sie waren Künstler, Künstler, die der Welt und ihren Konventionen gemeinsam die Stirn geboten hatten.
Sie ließ sich aufs Bett sinken, schloss die Augen und versuchte, nur solche Gedanken zu denken, die sie Frank näherbrachten, doch es war zwecklos. Diese dumpfen Schläge, das Gelärme, Schritte im Flur - und dann fiel ihr der andere Frank wieder ein, der verhasste, das Scheusal, der Spötter und Schmäher, der Betrüger und Heuchler und Frauenheld. Irgendwann versuchte sie, aufzustehen und das Fenster zuzumachen, den Lärm auszuschließen, doch was ihr der kahle kleine Mexikaner da zusammengemischt hatte, war zu stark, und so schlief sie weiter, schlief in einer traumlosen Leere, bis die Sonne durch die Vorhänge drang und der ganze Lärm sich zu einem herrischen Klopfen an der Tür verdichtete.
Es war Mr. Fakes Sozius, Mr. Jackson - »Harold, nennen Sie mich Harold« -, der sich Sorgen um sie machte. Es sei schon spät. Ob sie an die Tür kommen könne?
Ihre
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