Die Frauen
Frühe, Stunden bevor Miriam und ihre Spione auch nur aufgestanden sind, bringen wir dich zum Zug, zur Not auf einer Trage. Ich habe ein Abteil für uns reserviert, und Vlada* wird uns in New York abholen.«
* Vladimir Lazovich, ein Schiffsagent, der in Queens, New York, lebte. Olgivannas Bruder. Nicht zu verwechseln mit Vlademar, ihrem geschiedenen Mann.
Und so stahlen sie sich im Dunkeln fort, wie Diebe, Flüchtlinge, Hasenfüße.
Irgendwann mitten in der Nacht erschienen, wie versprochen, zwei Krankenpfleger mit einer Trage, begleitet von der Kinderschwester, die Frank für das Baby eingestellt hatte. Olgivanna erinnerte sich später, dass sie vom Geräusch scharrender Füße und dem grellen Licht der Lampe neben ihrem Bett erwacht war. Frank war da. Er beugte sich über sie, zerzaust und etwas mitgenommen von der Nacht, die er auf dem unbequemen Stuhl in der Ecke verbracht hatte, und auch Svetlana war da, sie stand unbeholfen mit ihrem Koffer und einem neuen Spielzeug in der Tür und schaute ziemlich trübsinnig drein. Oder nein, ängstlich, sie sah ängstlich aus, das arme Ding, schon wieder entwurzelt. Olgivanna streckte die Arme aus. »Komm her, mein Liebling«, flüsterte sie, und ihre eigene Stimme klang ihr seltsam in den Ohren. Svetlana zögerte.
Sie würde Schwierigkeiten machen, das merkte Olgivanna. Sie klopfte neben sich auf das Bett. »Komm. Es ist alles in Ordnung.«
»Olya, es ist schon spät«, sagte Frank.
»Komm, Svet - ich bin es doch. Und es geht mir gut. Jedenfalls wird es mir bald gutgehen. Mach dir keine Sorgen.« Immer noch nichts. »Willst du denn nicht deine kleine Schwester sehen?«
»Nein.«
Und dann war auch sie plötzlich da - Pussy -, in die Arme der Kinderschwestergebettet, aber wer war diese Frau, dieses schmallippige Mädchen mit den hängenden Schultern, dem Frank ihre Tochter anvertraut hatte? »Geben Sie sie mir!« befahl sie, und das Mädchen schaute zu Frank, Frank nickte, und ihre Tochter, die schon ein dünnes, kummervolles Wimmern angestimmt hatte, wurde ihr gereicht wie ein Paket im Lebensmittelladen. »Schau mal«, sagte sie und hielt das Kind für Svetlana hoch. »Wie winzig sie ist! Siehst du die kleinen Fingerchen und Zehen? Sie braucht eine große Schwester, die sich um sie kümmert - möchtest du dich nicht um sie kümmern?«
»Nein.«
Und Frank: »Olya.«
»Wir fahren über Weihnachten zu Onkel Vlada, Schätzchen. Weihnachten in New York, das ist doch wunderbar, oder?«
Sie kannte ihre Tochter. Kannte deren Launen. Die Antwort auf diese und jede andere Frage, die sie hier und jetzt stellen mochte, würde unweigerlich negativ sein. Doch das Mädchen machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Es kniff nur die Lippen zusammen und schaute weg. Nun griff Frank ein und begann Anweisungen zu geben - das konnte er gut -, die Kinderschwester nahm ihr Iovanna wieder ab, die Männer halfen ihr auf die Trage, und der Korridor tat sich tief und weit vor ihr auf und verengte sich wieder. Dann der Aufzug, die sich über ihr erhebende Nacht, ein Lufthauch, der nach der medizinischen Trockenheit des Krankenhauses himmlisch anmutete, und dann waren sie am Bahnhof, in ihrem Abteil, Svetlana lehnte sich an ihre Schulter und weinte sich erst einmal richtig aus, und irgendwann fuhr der Zug mit einem Ruck an, und sie waren unterwegs, wieder einmal unterwegs.
Was Frank betraf, so gab es kein Zurück. Olya ging es nicht gut - man musste kein Arzt sein, um das zu erkennen. Sie war eine junge Frau, jünger als seine beiden Töchter, doch als er sie in dem schaukelnden Abteil liegen sah, das Baby und Svetlana schlafend neben ihr, kam ihm eine Ahnung, wie sie mit den verrinnenden Jahren einmal aussehen würde, und er erschrak. Alles Weiche war aus ihrem Gesicht verschwunden und der Starrheit gewichen, die man bei den ganz Alten sah, feine Falten markierten ihre kantigen Züge, ihr frischer Teint war dahin, ihr Haar dünn und ohne Glanz. Sie war anämisch. Erschöpft. Verängstigt. Verstört. Er hatte leise mit ihr gesprochen, über das Rattern der Räder hinweg, hatte versucht, sie aufzumuntern, während das Baby strampelte und Svetlana sich in Schlaf weinte, und schließlich merkte er, dass sie eingedöst war, ihr Atem ging schwer und rasselnd, in ihrem rechten Nasenloch ein einzelner feuchter Tropfen, glitzernd wie ein Juwel.
Sein Gewissen plagte ihn.* Er hatte die Karre in den Dreck gefahren, keine Frage. Er hätte Olgivanna nicht nach Taliesin holen sollen,
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