Die freien Amazonen - 3
regelmäßiges Muster aus Höckern und Flecken auf der Oberfläche. Das Ei war ebenso hässlich und stinkig wie der Vogel, der es gelegt hatte.
Gavis Blick blieb an einem großen Knochen hängen, der frei von Fetzen fauligen Fleisches zu sein schien. Sie identifizierte ihn als das Schulterblatt eines chervine.
Ermutigt durch seine Glätte und Trockenheit nahm sie das Stück auf und kehrte zu dem mit Schnee und Steinen verstopften Eingang zurück. Der Knochen ersparte es ihr, ihre Fausthandschuhe zu zerfetzen, die sie später noch brauchen würde. Trotzdem war das Graben schwere Arbeit, und Gavi wurde es so warm, dass sie die äußeren Schichten ihrer Kleidung ablegen musste.
Ein- oder zweimal meinte sie, hinter ihrem Rücken ein Geräusch zu hören, und drehte sich voll Angst um, das Banshee sei durch eine andere Öffnung zurückgekehrt. So dunkel es war, sie konnte sehen, dass die Höhle keinen anderen Eingang hatte. Sie hatte eine Stelle freigeräumt, die beinahe groß genug war, dass sie hindurchkriechen konnte, als das Ei heftig zu schaukeln begann. Ein krummer Schnabel reckte sich feucht glitzernd aus einem Schlitz.
Gavis erster Impuls war, durch die enge Öffnung zu hechten, ganz gleich, welchen Schaden Haut und Kleidung nahmen, aber die Vorsicht hielt sie zurück. Wenn nun das Küken dieselben legendären Eigenschaften, was Schnelligkeit und Appetit betraf, wie die erwachsenen Banshees hatte? Dann packte es sie, bevor sie ihr Messer ziehen konnte. Und was war, wenn es sie mitten in dem Tunnel erwischte?
Kr-rack! Schalenstückchen flogen auf den rauen Boden. Dem Schnabel folgte ein knochiger Kopf. Er stupste unsicher an dem Loch herum, das noch zu klein zum Ausschlüpfen war. Das Wesen gab leise, gurgelnde Laute von sich.
Gavi lachte nervös auf. »Du dummer Vogel! Zieh deinen Schnabel wieder zurück, damit du dir den Weg freipicken kannst.«
Wie zur Antwort auf ihre Worte begann das Ei, sich zu drehen, und das Gurgeln steigerte sich zu einem zitterigen Stöhnen. Die Bewegungen wurden so heftig, dass Gavi fürchtete, das Ei könne umkippen und das Banshee-Küken sich den Schädel auf dem Fels einschlagen. Sie hatte nicht mehr an die Geburten denken wollen, denen sie, stumm und elend, in ihrem Heimatdorf beigewohnt hatte.
Die Gildenmütter hätten sie gern zur Hebamme oder Tierheilerin ausbilden lassen, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie hatte erwidert, sie habe genug Unschuldige sterben sehen und genug Windeln gewechselt, dass es für ein Leben reiche, und sie sei ins Gildenhaus von Thendara geflohen, um diesem Zyklus von Schmerz und Unwissenheit zu entgehen. Nicht hinzugefügt hatte sie, dass sie den Ruf jedes sterbenden Geistes gefühlt hatte.
Jetzt hatte sich das kämpfende Banshee-Küken in ihren Geist gedrängt. Sie nahm seine Verzweiflung wahr, als sei es ihre eigene, sie spürte, wie seine Kraft nachließ, während es seinen weichen Kopf gegen die unnachgiebige Schale schmetterte.
»Dummes, nicht so.« Gavi legte das Chervine -Schulterblatt hin und trat vor das Ei. Sie zog ihr kurzes Messer und stieß es in die Schale, benutzte die Klinge als Hebel, um die Öffnung zu erweitern. Das Küken wurde still, sobald sie sein Gefängnis berührte. Es war noch nass vom Fruchtwasser, aber es roch nicht so schlecht, wie sie erwartet hatte.
Kaum hatte sie eine Öffnung für den Kopf geschaffen, da begann das Umsichschlagen von neuem und zwang sie zurückzutreten, damit sie nicht umgehauen wurde. Bald kam der Rest des geschmeidigen Halses aus der zersplitternden Schale, dann ein runder Körper auf zwei dicken Beinen. Abgesehen von der Schuppenhaut an den Füßen war das Küken mit Flaum bedeckt und einem großen, nassen Haushuhn sehr ähnlich. Trotz des schlechten Lichts konnte Gavi sehen, dass es keine Augen hatte. Mit hämmerndem Herzen trat sie zurück. Natürlich, Banshees orientieren sich bei der Jagd nach Geräuschen und Körperwärme. Der Kopf des Kükens schwang vor und zurück, als schnüffele es in der Luft. Jeden Augenblick konnte es sie wahrnehmen und zuschlagen …
Das Banshee-Küken tat einen wackeligen Schritt und gab ein schwankendes Summen von sich. Denk nach, Dummkopf!, rief Gavi sich selbst zu. Was brauchen Neugeborene? Nahrung natürlich! Und wenn du ihm nichts anderes gibst, wird es dich fressen!
Der kleine Rucksack, den sie für gewöhnlich trug, war nicht mit ihrem Tier und dem übrigen Gepäck verloren gegangen. Gavi hob die Klappe und nahm ein Paket Dörrfleisch heraus. Mit
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