Die Freifliegerin Ein Hexenthriller (German Edition)
Uhr früh erreichte er die Sennerhütte, wo er für Wotan und Igor einige
Thunfischdosen öffnete. Die Katzen verhielten sich jetzt ruhig. Sie richteten
sich nicht einmal auf, als er die Türe öffnete. Er beschloss, einige Stunden in
diesem vergammelten, zerfledderten Bett zu schlafen und dann weiter zu ziehen.
Jetzt steht er am Pass und es
ist früher Nachmittag. Als er oberhalb des großen Geröllfeldes Rast machen
will, bemerkt er die Asche eines Lagerfeuers. Die Holzkohle ist noch frisch und
lauwarm. Hier müssen nachts ein paar Leute campiert haben! Mit einem unwohlen
Gefühl lässt er sich etwas abseits neben einer kleinen Quelle nieder und kramt
in seinem Tramperrucksack nach Essbarem.
Die ganze Angelegenheit hier
erscheint ihm extrem verrückt - obwohl er das Verrückte doch eigentlich gewohnt
sein müsste. Zieht sich der Irrsinn nicht wie ein roter Faden durch sein ganzes
Leben? Wo hat es denn angefangen mit diesem Irrsinn? Ach ja, natürlich, in
seiner Kindheit. Er lacht etwas bitter. Aber freilich noch viel früher, schon
lange vor seinem eigenen Leben begann diese ganze Kacke. Sein Vater war
Sudetendeutscher, der als Junge schon von der damaligen Tschechoslowakei illegal
und alleine nach Wien kam. Wo dessen Eltern geblieben sind? Keine Ahnung!
Jedenfalls musste sich der Vater durchschlagen im Nachkriegs-Wien, er nahm jede
Arbeit an und wohnte schon bald bei einem drei Jahre älteren Mädchen.
Schließlich fand er eine Arbeit in einer Schneiderei, wo er als Hosenbügler im
Akkord arbeitete. Dort begann er zu trinken. Und dort lernte er auch Boris´
Mutter kennen.
Ein Jahr später kam Boris zur
Welt. Und da begann der Wahnsinn so richtig. Den Tag, als Boris zur Welt kam,
verbrachte sein Vater in den Armen (oder zwischen den Beinen?) einer
gemeinsamen Arbeitskollegin, wie er seiner Mutter später gestand.
Sturzbetrunken kam er dann aber doch noch mit einem riesen Strauß roter Rosen
in die Semmelweisklinik und hieß seinen Sohn willkommen.
Hallo Papa!
Dabei war er kein schlechter
Mensch. Nur sehr schwach. Der Vater konnte innerhalb einer Minute der netteste
Mensch sein und gleich danach furchtbar zynisch und gewalttätig. Besonders
Mutter gegenüber. Jeden Freitag, wenn er nach der Arbeit noch ins Wirtshaus
ging und dann um zwei oder drei Uhr früh nach Hause kam, zitterten seine Mutter
und er und hielten den Atem an. Wie wird er gelaunt sein? Wird er das Licht
anmachen und das Radio einschalten? Wird er wieder einen Grund finden, um
Mutter zu verprügeln? Einmal hat Boris mitgekriegt, dass der Vater das
Küchenmesser gegen sie gehoben hat. Zum Glück konnte Mutter ihn damals mit
irgend einem Trick noch beruhigen und er ist dann mit glühender Zigarette
zwischen den Fingern am Küchentisch eingeschlafen.
Boris zündet sich eine
Zigarette an und merkt, wie seine eigenen Finger zittern.
Als Vater Mitte dreißig war,
kamen bei ihm die ersten Depressionen. Er vertrug den Alkohol nicht mehr so gut
und konnte nachts nicht schlafen. Stündlich wachte er auf und rauchte eine
Zigarette im gemeinsamen Schlafraum der Zimmer-Küche-Wohnung. Den ganzen Tag
und die ganze Nacht qualmte es ständig in dieser Wohnung. Mit zwölf begann Boris
selbst zu rauchen. Der Vater jedoch hatte sich mittlerweile angewöhnt, Rohypnol
mit Alkohol zu mischen, um abends besser einschlafen zu können. Wochentags ab
acht Uhr abends befand er sich nun in einem deliranten Zustand, der verrückter
kaum sein konnte. Er hatte Erinnerungslücken, redete fast nur noch Unsinn,
schlief ständig vor dem Fernseher ein und schnarchte so laut, dass keiner in
der kleinen Wohnung ein Auge zutun konnte.
Mit vierzehn ging Boris nicht
mehr zur Schule. Er hatte beschlossen, sich diesem Stress nicht mehr
auszusetzen. Dafür trieb er sich jetzt in den Junkiekreisen der damaligen
Wiener Szene herum, im "Go-Go", im "Wom-Wom" und in der "Camera
Obscura". Dort lernte er eine völlig neue Welt kennen.
Auch eine verrückte Welt.
Natürlich!
Doch diese Welt schien ihm
beherrschbarer als die Schule oder sein Zuhause. Er verkaufte in den
Diskotheken Cannabis, Acid und manchmal auch Heroin. So hatte er mit vierzehn
die Taschen voller Geld, das er dann tagsüber mit seinen Freunden im Wiener
Prater oder im Wirtshaus wieder ausgab. Seine Mutter merkte von alledem nichts.
Sie arbeitete praktisch Tag und Nacht an verschiedenen Stellen als Bedienerin,
denn der Vater hatte inzwischen seinen Job verloren, wegen seiner Alkoholsucht.
Und er hatte keine Kraft mehr, sich
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