Die Frequenz: Thriller (German Edition)
Glastüren öffneten sich, als er sich näherte. Schnaufend rannte er durch die leeren Korridore. Seine Schritte hallten. Noch einmal sah er auf die Uhr; dann stolperte er durch die Doppeltür und spürte sofort den Blick sämtlicher Studenten, die von den gestaffelten Sitzreihen herabsahen. Die digitale Tafel war mit Notizen bedeckt, und Jenny Jones – die böse Hexe des Westens – stand neben dem Podium, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Nett, dass Sie kommen«, war ihr nicht einmal lauwarmer Empfang.
Jenny war eine attraktive Brünette von fünfunddreißig Jahren mit einem Hochschulabschluss in Rechtswissenschaften. Sie war geistreich und rechthaberisch, hatte eine gute Figur und ein kokettes Lächeln – und wenn es nach Wilson gegangen wäre, würde er diese Schlange in seinem ganzen Leben nicht wiedersehen.
Wilson konnte ihr ansehen, dass sie sauer war, ehe er sich den gut fünfzig Studenten zuwandte, die ausdruckslos in seine Richtung blickten. In der vierten Reihe fiel sein Blick auf Jennys Freund. Es schien, dass Alfy – Alfred Souza – wieder beim Unterricht hospitierte.
Wilson konnte Alf so gut leiden wie das Gefühl, wenn einem mit der Zange die Nägel ausgerissen werden. Das war durchaus vergleichbar, fand Wilson. Alf zu sehen war höchstens noch ein bisschen schlimmer.
Warum?
Jenny und Wilson hatten mal eine feste Beziehung gehabt. Professor Author sagte, Wilsons Gefühle, die er noch immer für sie hatte, beruhten allein darauf, dass Jenny gut im Bett sei. Doch Wilson war sich da nicht so sicher. Es musste mehr sein als das. Wilson hatte sich entschieden, Jenny jetzt, wo sie nicht zusammen waren, zu verachten – es ging nur so oder so, meinte er; einen Mittelweg gab es nicht. Was die Dinge so komplizierte, war der Umstand, dass sie nicht nur gemeinsam eine Doktorarbeit über Handelsrecht schrieben, sondern auch gemeinsam unterrichten mussten. Deshalb verbrachten sie zehn quälende Wochenstunden im Hörsaal vor Studenten des ersten Jahres.
»Der Auftritt ist wichtig«, verkündete Wilson vor der Klasse. »Ein gelassener Auftritt. Passen Sie auf, denn ich zeige Ihnen jetzt, wie man nicht in Panik gerät, wenn ein Kollege sauer auf einen ist.« Wilson gab Jenny einen Klaps auf die Rückseite, um sie vom Podium wegzuschieben.
»Du Mistkerl«, flüsterte sie.
»Hör auf, du liebst das doch«, flüsterte er zurück.
Während Wilson sich das Mikrofon richtete, sagte er: »Beachten Sie, wie ruhig ich bin.« Seine Stimme kam jetzt aus den Lautsprechern. Einen Moment blickte er Jenny in die Augen und machte sie schmal, um noch einmal Salz in die Wunden zu streuen; dann wandte er sich an sein Publikum. »Aber Spaß beiseite, Leute«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin. Es gab einen schrecklichen Unfall mit einem Eislaster. Er brach durch meine Bürotür, und ich musste mich nach draußen schlecken.« Er rieb sich den Bauch und stieß einen leisen Rülpser aus, der durch den Hörsaal hallte. »Aber das tue ich gern für Sie.«
Die Studenten grinsten, nur Jenny und ihr Freund schienen für seinen Humor unempfänglich.
Wilson blickte auf die Notizen an der Tafel. Er kannte sich in dem Stoff aus.
»Handelsrecht«, sagte er. »Knien wir uns einfach mal rein. Wie stellen wir sicher, dass zwei Länder mit unterschiedlichen Gesetzen und Rechtssystemen einen Streit lösen können, wenn er sich ergibt? Eine spannende Frage …«
Karin Turnberry saß in der dritten Reihe. Sie hatte zwanzig Minuten lang geduldig auf Wilson gewartet. Ein Witzbold, dachte sie, wie interessant. Nachdem sie den vermutlichen Gen- EP -Kandidaten eindeutig identifiziert hatte, stieg sie zuversichtlich die Stufen hinunter zum Podium.
»Mr. Dowling, mein Name ist Karin Turnberry.« Sie deutete auf die Doppeltür zur Rechten. »Ich muss Sie für einen Moment sprechen.«
Wilson sah fragend zu Jenny hinüber, als wäre das ein übler Streich; dann blickte er die Fremde an, die vor ihm stand. Er hatte sie noch nie gesehen; andernfalls würde er sich erinnern. Sie war attraktiv und hatte eine kurvenreiche Figur, die in einem weißen Overall steckte, der – abgesehen von der Farbe – militärisch anmutete.
Wilson ging dicht an Jenny heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Eine Stripperin! Willst du mich auf den Arm nehmen?« Doch angesichts ihrer feindseligen Reaktion war ihm klar, dass sie nichts damit zu tun hatte.
Wilson drehte sich wieder zu der Fremden um in dem Bewusstsein, dass die Studenten jede seiner
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