Die Frequenz: Thriller (German Edition)
sie immer. »Du hattest hübsche Pausbäckchen.« Als Helena damals von zu Hause ausgezogen war, hatte Lawrence entschieden, dass Julia seine Tochter begleiten solle. Das war jetzt gut drei Jahre her. Julia hatte keine eigenen Kinder und behandelte Helena, als gehöre sie zur Familie. Helena empfand genauso, doch Julia konnte ihr häufig auf die Nerven gehen, und manchmal war die Stimmung gereizt. Sie kannten sich zu gut, um auf Förmlichkeit Wert zu legen, und so wurde es manchmal hitzig.
Helena reagierte unvermittelt. »Warum machst du das jedes Mal?«, rief sie. Es war zermürbend, wenn Julia erschien, ohne sich vorher bemerkbar zu machen. Helena tat ihr Ausbruch sofort leid. »Bitte entschuldige.« Verlegen schlug sie die Hände vor den Mund. »Ich wollte dich nicht anschnauzen.«
Julia zog Helena in den Arm. »Du kannst nichts dafür, was los ist. Es ist nicht deine Schuld.« Helena wurde steif wie ein Brett; sie mochte es nicht, angefasst zu werden. Peinliches Schweigen setzte ein, bis Julia sie losließ und auf das Tablett zeigte. »Du musst essen, si ?«
Helena strich ihren Morgenmantel glatt. »Ich gehe heute zur Arbeit.«
»Du gehst zur Arbeit?« Julia wirkte überrascht.
Helena nickte. »Das habe ich vor.«
»Du musst dich entspannen. Schlafen. Sieh dir was im Fernsehen an.«
»Heute nicht. Ich gehe zur Arbeit.« Helena ging eilig ins Ankleidezimmer. Sie zwang sich, an das Recida-Village-Projekt zu denken. Ihr Vater hatte recht – sie hinkte weit hinterher. Das war okay. Sie mochte es, unter Druck zu stehen; das befreite sie von dem Übel, zu viel nachzudenken.
Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Ich sehe müde aus, stellte sie fest. »Aber damit ist es gleich vorbei«, flüsterte sie. »Make-up schafft alles.« Sie setzte ihren eiskalten Blick auf. Ich kann das.
Helena suchte sich ihre Sachen zusammen, stieg die Stufen hinunter und warf sie aufs Bett. Als sie sich die Bluse anzog und zuknöpfte, blickte sie zur Uhr: 7.27. Wenn der Verkehr nicht so dicht war, konnte sie um Viertel nach acht im Büro sein.
Ganz plötzlich fühlte sie sich desorientiert.
Zuerst war es nur ein leichtes Schwindelgefühl, aber dann wurden ihre Beine schlapp, und sie fand sich auf den Knien wieder, die Hände auf den Teppich gestemmt, um nicht umzukippen. Ein roter Dunst beherrschte ihr Blickfeld. Dann bekam sie lebhafte Halluzinationen. Es war beängstigend. Sie wehrte sich gegen die Bilder, doch je heftiger sie sich dagegensetzte, desto klarer wurden sie.
In dem roten Dunst sah Helena sich selbst auf der Flucht. Entsetzt riss sie die Augen auf, um das vertraute Schlafzimmer vor sich zu sehen. Es war schwer, sich zu konzentrieren. Die Bilder schoben sich vor die Wirklichkeit.
Wie kann das sein?
Ein Polizist verfolgte sie! Helena rannte um ihr Leben.
Wie ist das möglich?
»Hilfe!«, rief sie und presste sich die Hände vors Gesicht, wie um die Bilder auszulöschen. »Hilf mir!«
Julia hörte sie und rannte zurück ins Schlafzimmer.
Der Polizist holte auf, mit gezogener Waffe! Helena bekam kaum noch Luft. »Ich sehe Dinge …«, jammerte sie, als sie Julia hinter sich spürte. »Jay Jay, ich sehe Dinge. O Gott!« In ihrer Vision kletterte sie einen hohen Maschendrahtzaun hinauf und ließ sich auf die andere Seite fallen.
Julia hielt sie fest. »Atme, Bambina. Atme!« Sie wiegte die zitternde junge Frau. »Bei mir bist du sicher, Bambina, du musst nur atmen.« Sie wiederholte das Mantra mit gleichmäßiger, ruhiger Stimme.
Die Worte klangen in Helenas Ohren und beruhigten sie.
Sie lief über eine stark befahrene Straße – eine Schnellstraße. Die Autos rasten an ihr vorbei, verfehlten sie nur um Zentimeter. Sie taumelte, stürzte hin, schrie vor Angst. In diesem Moment begriff sie, dass sie durch die Augen eines anderen sah, durch die Augen eines Mannes. Sie sah seine Beine und Füße. Er wischte sich übers Gesicht. Seine Hand war blutig.
Dann schleuderten Wagen auf ihn zu.
Der sichere Tod.
So plötzlich die Vision begonnen hatte, so plötzlich setzte sie wieder aus, und der rote Dunst verschwand.
Helena öffnete versuchsweise die Augen.
»Er ist tot«, flüsterte sie, als würde sie alles begreifen.
»Wer?«
»Der Mann.«
»Welcher Mann?«
»Der Mann, den ich gesehen habe.«
Julia zog die kraftlose Helena aufs Bett und deckte sie zu, als wollte sie sie mit dem weichen Bettzeug beschützen.
Mit kräftiger, zuversichtlicher Stimme, die ihre Besorgnis verbarg, sagte Julia: »Du bist hier
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