Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
Brunnenschacht, auf einem Baugerüst oder auf einem fremden Hausdach zur Besichtigung des Sternenhimmels triffst –
    –
Besichtigung
… du erinnerst dich noch?
    Ihr Gesicht hörte auf zu sprechen. Sie brauchte eine gewisse Zeit, um das, was ich gesagt hatte, aufzunehmen. Dann richtete sie ihren leicht vorgebeugten Oberkörper auf und stemmte die Arme in die Hüften, Hüften, deren stiller Schwung für elegante Schuhlöffel Modell gestanden hatte.
    – Wovon redest du eigentlich?
    – Das Wort hast du damals verwendet, als wir es die ganze Nacht auf dem Balkon getrieben haben, im Sommer, unter der Decke, sagte ich. Erinnerst du dich?
    – Ich erinnere mich, sagte sie.
    – Ja, und über uns, da war dieser riesige –
    – Mein Gott, sagte sie plötzlich und fing mit der Hand Tränen ab.
    Ich stand auf.
    – Was ist denn?
    – Mein Gott, du solltest … du solltest dich einmal hören, jammerte sie. Wie du redest!
    Sie schluchzte, mit einer einzelnen, viel zu schmalen Hand vor ihrem Gesicht. Ihre Wangen waren rot angelaufen. Ihre Unterlippe zitterte oder suchte immer noch nach den richtigen Worten. Ich kam ihr zuvor:
    – Aber was hab ich denn gesagt?
    – Du solltest dich hören, würgte sie mit einem dünnen Stimmrest hervor. Du solltest dich reden hören. Du bist verliebt.
    Ihr Make-up brachte ihre Tränen mitten auf der Wange zum Stillstand, wie Wachstropfen auf einer brennenden Kerze.
    – Aber was hab ich denn –
    – Du bist verliebt! Das sieht ja sogar ein Blinder. Erzähl mir nichts.
    Wieder verbarg sie ihr Gesicht hinter ihren zu kleinen Händen.
    – Idiot, sagte sie leise. Verdammter Idiot.
    Der alte Tragödiendichter überspringt ein paar Seiten. Mit dem Daumen, den er sich vorher in den Mund gesteckt hat, blättert er weiter. Sein Mund bleibt offen, die Unterlippe hängt rot herunter, wie die Zunge einer alten Katze
.
    –
Also, der Mann, sagt er, während er blättert, der Mann trifft sich also mit dieser viel älteren Frau, wovon seine Freundin natürlich weiß. Der Mann bleibt sehr lange weg. Und er trifft die ältere Frau nach einem ziemlich lächerlichen Vortrag, den sie irgendwo gehalten hat
.
    Der Dichter kehrt wieder zum Text zurück. Er holt Luft, als wollte er einen neuen Absatz beginnen, dann hält er inne, fährt mit dem Zeigefinger eine Zeile entlang, murmelt leise mit. Er schüttelt den Kopf, er hat sich geirrt. Er blättert weiter, sichtlich verärgert über sein Missgeschick, und die Seiten, die er überblättert, scheinen ihn nicht fröhlicher zu stimmen: Sie sind übersät mit Korrekturen, roten und hellblauen Flecken und dichten Wolken aus Randnotizen. Selbst aus der letzten Reihe sieht man deutlich, dass vieles, was auf diesen Seiten gesagt wird, besser ungesagt geblieben wäre
.
    – Mein Gott, ich lass dir ja deinen Freiraum, es ist nur –
    – Lydia, bitte nicht mehr heute, ich bin müde.
    – Ich steh jetzt einfach ziemlich dumm da, das ist alles. Das wollte ich dir am Telefon sagen.
    – Wieso das? Wieso stehst du dumm da?
    – Du willst mich nicht verstehen, oder?
    – Doch. Also wieso?
    – Nein, weißt du was, wenn du gerade nicht zuhören kannst … du bist müde und alles … wir können auch später reden. Du solltest einfach hier bleiben und dich ausschlafen.
    – Jetzt sag schon.
    – Gut, wenn du’s unbedingt wissen willst. Weil ich so für dich gekämpft habe, damals, vor meinen Eltern. Und wie steh ich jetzt da?
    – Warte mal, warte mal eine Sekunde … du hast was?
    – Ja, jetzt bin ich die, die sich von Anfang an geirrt hat! Was glaubst du, wie
die
sich hinter meinem Rücken das Maul zerreißen.
    – Dann lass sie reißen.
    – Ich hätte nicht davon anfangen sollen. War es wenigstens lustig heute? Ich meine, für dich?
    Ich antwortete nicht. Lydia hatte mir eine dicke, weiche Decke gegeben, und bald schlief ich ein und träumte von einem weißen Dudelsack, dem bei jeder Bewegung seine fragilen Knochen brachen. Als ich ihn umarmen wollte, schrie der Dudelsack wie eine Ziege. Ich schlief bis Mittag, trotz der Kälte, dann weckte mich der Lärm eines rückwärts fahrenden LKWs. Lydia hatte mich einfach im Garten schlafen lassen. Ich ging zu ihr in die Wohnung. Sie machte mir etwas zu essen und erzählte mir von einem Videofilm, den sie sich gestern ausgeborgt hatte.
    Als ich am Nachmittag losfahren wollte, bemerkte ich, dass sich die Pedale meines Fahrrads nicht mitbewegten,wenn man es rückwärts schob. Ich musste es reparieren, denn in ein paar Stunden begann

Weitere Kostenlose Bücher