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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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die Oper und ich musste vorher noch nach Hause, mich umziehen. Ich stellte das Rad in der Einfahrt des Hauses auf. Zuerst versuchte ich die Pedale zu bewegen, während ich den Hinterreifen anhob. Es ging nicht. Ich war so darauf konzentriert, den Fehler zu finden, dass ich nicht merkte, wie die Zeit verging.
    Irgendwann kam Lydia zu mir nach unten, sah auf die Uhr, dann setzte sie sich auf die Stufen und schaute mir bei der Arbeit zu. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mit dem Rad nicht stimmte. Die Pedale hingen irgendwie fest, aber ich konnte ums Verrecken nicht erkennen, wo und warum. Ich hob die Kette an und sie fiel herunter. Ich richtete mich auf und trat gegen das Rad. Die Speichen federten wild hin und her, aber es fiel nicht um.
    Lydia polierte einen Apfel an ihrem Hemd und biss krachend hinein.
    – Scheißding, sagte ich.
    Lydia kaute zustimmend und biss noch einmal in den Apfel.
    – Könntest du mich eventuell fahren?
    Sie wartete, bis sie geschluckt hatte.
    – Weißt du was?, sagte sie. Beißen ist wie ein … ein elementares menschliches Vergnügen, findest du nicht auch? Jemanden dabei zu unterbrechen ist fast unverschämt. Beißen, kauen, das ist das Leben selbst, in … in einen Pfirsich, in ein hartes Stück Brot, in eine fremde Lippe, in die glatte Haut am Nacken, so … so raubtierhaft. Oder in einen Apfel wie den hier.
    Sie hielt ihn hoch. Der Apfel hatte inzwischen die Form einer verkrüppelten Doppelpagode. Ein letztes Mal biss sie hinein und ließ dieses unvergleichliche Geräusch hören,als würde man einer Holzpuppe das Genick brechen. Zähne, der härteste Teil des Körpers, konzentrierte Stärke, eine Pressgewalt von hundert Kilo bei einem einzigen kräftigen Biss. Kein Wunder, dass wir sie pflegen und sauber halten, aber wie seltsam, dass wir gerade unsere Zähne entblößen, um zu signalisieren, dass wir einander gewogen sind, dass wir uns freuen.
    – Kannst du mich fahren?, fragte ich freundlich. Bitte.
    Lydia lächelte zufrieden.
    Ich dachte daran, wie mich die winzige Lücke zwischen den Schneidezähnen von Valerie entzückte. Sie war wie ein Detail aus einem Kindergesicht, das sich in das Gesicht einer erwachsenen Frau verirrt hatte. Ich wollte am liebsten meinen ganzen Kopf zwischen diese Lücke klemmen!
    – Sicher, sagte Lydia. Sicher kann ich dich fahren.
    – Verfluchtes Scheißding, murmelte ich.
    Ich stellte das Rad zurück in den Garten, wo ich es noch einmal verfluchte, und folgte Lydia und ihrem Apfel zurück in die Wohnung. Sie war noch im Pyjama und musste sich erst anziehen.
    – Warte, sagte sie. Ich bin gleich so weit.
    Ich war schon fertig angezogen und stand in Schuhen vor der Tür. Sie kam lange nicht.
    – Was hast du gemacht?, fragte ich sie.
    – Nichts. Ich hab mir noch die Nägel geschnitten.
    – Warum ausgerechnet jetzt?
    – Mit langen Nägeln kann ich das Lenkrad nicht halten. Wo soll’s überhaupt hingehen?
    – Zuerst zu mir nach Hause, ich muss mich umziehen. Dann zur Oper.
    – Du verarschst mich?
    – Nein, jetzt komm schon. Ich kauf dir auch ein Eis.
    – Jetzt verarschst du mich, oder?
    – Ja, komm jetzt.
    Das Hemd, das ich in aller Eile angezogen hatte, war zu kurz und ich musste es immer wieder in die Hose zurück stopfen. Dazu fühlte sich das schwarze Sakko so an, als befände sich der Kleiderbügel immer noch darin. Lydia fuhr sehr vorsichtig. Sie ließ alte Frauen bei tödlich roter Ampel über die Straße gehen, hielt für einen roten Ball, der sich auf die Fahrbahn warf, und musste unterwegs auch noch tanken.
    Trotzdem kamen wir eine halbe Stunde vor Beginn bei der Oper an.
    – Danke, sagte ich zu Lydia und stieg schnell aus.
    – Warte, rief sie mir nach. Kann ich dich hinterher anrufen, es ist nur wegen –
    – Heute nicht mehr, sagte ich und rannte davon, obwohl der Eingang keine zehn Schritt entfernt war. Als Lydia fort war, stellte ich mich in Warteposition.
    Die Zeit begann zu vergehen. Ich lief auf und ab. Irgendwann wurde die Zeit langsamer, schließlich kroch sie nur mehr dahin. Keine Spur von Valerie.
    Ich wartete über eine Stunde. Menschen gingen an mir vorbei wie aus einer anderen Dimension: mit sich selbst beschäftigt, unendlich weit entfernt. Als gehörten sie selbst zur verwunschenen Welt der
Zauberflöte
. Wenn ich um Hilfe geschrieen hätte, wären sie mir wahrscheinlich nur ausgewichen, so wie man einer Statue ausweicht, die zufällig im Weg steht.
    Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Es war furchtbar

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