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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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weiter. Wenn er sich bewegte, hörte der Schwindel auf und alles war wieder still.
    Schritte näherten sich, kündigten jemanden an, der nicht viel wog. Vielleicht einer der Fasane. Mit einem Frühstückstablett im Schnabel. Sonst wollte ihn hier ja niemand sehen, dachte er.
    – Walter?
    Mirjas gedämpfte Stimme.
    – Hm?, machte Walter.
    – Ich wollte nur fragen, ob du … Walter?
    – Ja, sagte er lauter. Ja, ich bin da.
    – Darf ich reinkommen?
    – Bin müde.
    – Okay. Ich wollte auch nur fragen, ob du vielleicht mitgehen magst. Wir gehen irgendwo auswärts essen.
    Er überlegte. Die Idee fühlte sich gar nicht mal schlecht an. Aber er hatte keinen Appetit.
    – Nein, danke. Ich glaub, ich bleib hier. Ausruhen.
    – Sicher?
    – Ja.
    Er drehte sich auf die Seite und deckte sich mit seinen Lidern zu.
    – Okay, dann …
    Walter blieb liegen, bis er das Räuspern des in Betrieb genommenen Wagens hörte, der sich zu einem frühenEssen (sagte man um diese Uhrzeit noch
Frühstück
?) auf den Weg machte. Nur seine Eltern waren imstande,
auswärts
frühstücken zu fahren.
    Reiche Provinzidioten, dachte er.
    Er stand auf und zog sich eine bequeme Jogginghose an. Obwohl sie erst wenige Stunden in seinem alten Schrank gelegen war, roch sie bereits danach. Der Zeitsprung war unvermeidlich: Walter erinnerte sich an die vielen Male, da er mit einem Couchpolster über die Treppe hinuntergerutscht war und sich dabei mit den Händen vorangepaddelt hatte wie ein Bobfahrer.
    In der unteren Lade des Kleiderschranks fand er ein paar alte T-Shirts, darunter eines mit dem Polizeifoto von Martin L. Gore, dem Keyboarder und Komponisten der Gruppe
Depeche Mode
. Er hatte einmal alle ihre Platten besessen und sie irgendwann einfach hergeschenkt, an einen Jungen, der ihm gefallen hatte. Roland. Was wohl aus ihm geworden war?
    Er zog das T-Shirt an. Es passte ihm immer noch.
    In dieser Verkleidung ging er hinunter ins Wohnzimmer. Prächtiges Sonnenlicht fiel durch die Fenster und wärmte die alten, vom Staub zerfressenen Möbel. Er öffnete die Terrassentür. Im Hof mischten sich Wind und Sonne. Klare, warme Herbstluft. Im Türrahmen blähte sich ein altes Spinnennetz.
    Walter streunte durch sein Elternhaus, und wie immer, wenn er dachte, dass er aus irgendeinem Grund nicht willkommen war, und sich trotz aller Anfeindung stets wie ein würdevoller Eindringling fühlte, ging er direkt ins Schlafzimmer seiner Schwester, wo er kurzerhand zwei Schubladen vertauschte (Socken und Unterwäsche), und anschließend in das seiner Eltern. Vorsichtig machte er dort Schränke auf und wieder zu, setzte sich auf das großeBett und ließ es federn. Hier hatte er sein erstes Gedicht geschrieben, auf dem Rücken liegend, mit dem Ende der Füllfeder im Mund. Warum eigentlich hier? Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie er damals darauf gekommen war. Vielleicht weil es das einzige Zimmer im Haus war, das man absperren konnte, ohne einen Schlüssel zu brauchen (die Tür hatte eine eingebaute Verriegelung, wie bei einer Toilette).
    Als sie ihn dabei ertappt hatten, waren seine Eltern natürlich ausgerastet – vor Freude. Sie hielten seine poetischen Kreationen vor sich in die Höhe und lasen sie sich gegenseitig laut vor, in einem sonderbaren Singsang, der wohl irgendwie zu Poesie gehörte. Walters Vater war so stolz, dass er ihm das Angebot machte, einen Privatdruck von Walters
Frühwerk
zu bezahlen.
    Damals hatten seine Eltern es noch geschafft, ihn mit ihrer Begeisterung zu motivieren. Wie ein Wahnsinniger begann er Gedichte zu schreiben. Dann arbeitete er eine Zeitlang mit einem Diktiergerät. Wieso er ausgerechnet dazu übergegangen war, konnte er nicht mehr sagen. Er hatte eine vage Vorstellung von einem glücklichen Moment auf einer Parkbank, in dem ihm eine Stimme zukommen würde, so ähnlich wie bei Rilke auf Schloss Duino, die durch ihn, aus ihm und in ihm zu hören wäre. So was in der Art. Ungefähr. Zu dem Vogelgesang und dem Lärm der Basketball spielenden Jugendlichen (in deren nackte Oberkörper er am liebsten seine jungfräulichen Zähne geschlagen hätte) würde er seine Inspiration in die kleinen Schlitze des Diktiergeräts sprechen. Walter war schon immer ein bedächtiger und langsamer Sprecher gewesen, ein chronischer Reisender, der Landschaften sammelte wie Briefmarken. Zumindest hatte er sich damals so gesehen. Und wie dem begeisterten Philatelisten bereiteten ihmdie Fehlfabrikate die größte Freude: ein See, aus dessen Mitte ein

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