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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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verwitterter weißer Kirchturm ragte, der schon vor langer Zeit den Verstand verloren hatte und nur mehr ein paar Seevögel beherbergte; ein ausgeschlachteter Lieferwagen ohne Räder auf einem Kornfeld; ein Wald mit einer gestrandeten Gondel, die langsam von jungen Nadelbäumen zugedeckt und verschluckt wurde; ein Spielplatz in einer namenlosen Vorstadt, der über und über mit Tauben bedeckt war; eine polternde Brücke mit alten Hochwasserwarnschildern, die über ein ausgetrocknetes Flussbett führte; die albtraumhaften Reste eines Zirkuszelts auf einer Gemeindewiese.
    An all diese Dinge dachte er, wenn er eine Gedichtzeile in das Mikrophon zu sprechen begann. Die Wörter kamen wie von selbst, und in den Wörtern waren Bilder von weiten, grenzenlosen Landschaften verborgen; er sah ein weites Feld, wie immer schneebedeckt, sah merkwürdige kleine Gestalten auf einer Brücke bei starkem Regen, die aus einer japanischen Tuschzeichnung ausgebrochen waren, die Poesie verschnürter und zusammengebundener Eislaufschuhe und einen alten einarmigen Nussknacker, der im Haus seiner Großeltern gestanden war – schöne Worte wie
Perlen, neun, Sommer, Regen, Ranken
– sie erinnerten ihn an die stillen Straßen seines Heimatdorfes, an den psychedelisch gelben Forsythienstrauch, dessen schwermütige, rätselhafte Bewegungen die Fieberträume seiner Kindheit erfüllt hatten, an einen im Schlamm von Traktorspuren gestrandeten roten Fußball; all das sah er in den Wörtern, die er mit geschlossenen Augen aneinanderreihte und bedächtig dem gigantischen Speicherplatz (45 Minuten) zwischen seinen Fingern anvertraute. Am Ende hörte er sich das Gedicht (oder was immer er da geschaffen hatte) an, den kleinen Lautsprecher an seinOhr gedrückt. Ja, ja, es stimmte, es war alles da. Er sah und roch seine Kindheit, spürte Lichteinfälle vergangener Tage und rührte sich, je näher es gegen Mittag ging, mehr und mehr selbst zu Tränen. Es stand für ihn völlig außer Frage, dass womöglich niemand sonst die Bilder sehen konnte, die für ihn in den Wörtern verborgen waren. Aufgewühlt und glücklich erhob er sich von der Parkbank und machte sich auf den Weg nach Hause. In der Konditorei überkam ihn plötzlich ein Gefühl von Selbstzufriedenheit, und er antwortete auf die Frage, wie man ihm dienen könne, nur mit einem leisen:
Nichts … nichts … Danke
. Spätabends, wenn er in den Gedichtbänden seiner Vorbilder blätterte, kam es ihm beinahe wie eine Art Fehlentwicklung vor, dass er hier allein sitzen sollte, unbemerkt und wenig wahrgenommen von der Welt, er, ein Dichter von derselben tiefinnersten Ergriffenheit wie Trakl, Heym oder Bachmann. Er las ihre Werke nur im Vergleich zu sich selbst und fand seinen Verdacht, dass seine eigenen Gedichte durchaus bestehen konnten, immer wieder bestätigt. In solchen lichten Momenten konnte es sogar vorkommen, dass er ernsthaft über die Gründung einer Familie nachdachte.
    Doch wenn er sich bei diesem Gedanken ertappte, holte er schnell ein Puzzle aus dem Kasten und legte eine Winterlandschaft aus fünfhundert Teilen.
    Wo waren diese ganzen Puzzlespiele heute?
    Walter legte die Zettel zurück in den Schrank seiner Mutter. Es rührte ihn, dass sie sie so lange hier aufbewahrt hatte. Diese ganzen Kindereien. Joachim hatte schon Recht gehabt; nur ein einziges Gedicht war ihm einigermaßen brauchbar erschienen. Das von dem Hund.
    Walter hatte ganz allein einen Ausflug in die Berge gemacht und war in einer kleinen Herberge abgestiegen. Alser sich unbeobachtet fühlte, schrieb er ein Gedicht in das h uralte, in Leder gebundene Gästebuch.
    durch den schnee kommen wir
spindelglocken im mond
sperper-vernebelt der see
    Er unterschrieb das Gedicht mit seinen Initialen: W. Z. Aber das Z misslang ihm, und er strich es aus und malte ein neues, schöneres.
    In der Nacht konnte er nicht einschlafen. Zuerst störte ihn das Blinken eines Radioweckers, der auf dem Nachtkästchen neben ihm stand. Nachdem er ihn umgedreht hatte, musste er daran denken, dass der Wecker ja immer noch blinkte, selbst wenn er ihn gar nicht mehr sehen konnte, und entfernte die Batterien aus dem Gerät. Dabei splitterte ihm der Daumennagel und er kaute ihn ab, bis er das schmerzhafte Pochen seines eigenen Pulses in der Fingerkuppe spürte.
    Er musste ständig an das Gedicht denken, das er am Morgen ins Gästebuch geschrieben hatte. Er konnte sich nicht mehr genau an den Wortlaut erinnern und das ärgerte ihn. Schließlich stand er auf,

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