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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Wasser, und warum sich bei jedem, aber auch wirklich jedem Durchlauf des Experiments an allen möglichen Orten diese albernen Kirchtürme bilden und diese vielen langsam dahingleitenden Fahrzeuge, die vor jeder Kreuzung Schlange stehen, als hinge der Fortbestand der Welt davon ab.
    In einer bestimmten Straße unweit des Volksgartens hat sich ein Verkehrsschild aus seiner Verankerung imBeton gelockert und ist zur Seite gekippt, wie ein Stundenzeiger, der von der Zwölf auf die Eins springt. Auf die Straße, genauer gesagt, auf eine einzelne Mauer in dieser Straße, fällt bereits Licht; der Schatten der Nachbarhäuser ist langsam gesunken und nun ist die gesamte Mauer ein Abbild des frühen Morgens, brennend und nackt – der einzige Schatten, der geblieben ist, ist der des schief stehenden Vorfahrtsschildes, der scharf über den Asphalt fällt und an einer Stelle einen kleinen Buckel bildet: Er liegt auf einem Menschen.
    Ein Mann tritt aus einem der hohen Gebäude, die an den Park grenzen. Er wirft einen Blick auf die Frau, die mitten auf dem Gehsteig schläft.
    Am helllichten Tag.
    Er blickt auf die Hausmauer gegenüber. Er schüttelt den Kopf. Bestimmt eine Betrunkene.
    – Am helllichten Tag!, wiederholt er.
    Aber natürlich kann ihn niemand hören, am wenigsten die Bewusstlose selbst, denn unter ihr sammelt sich bereits Blut. Und austretendes Blut bedeutet immer einen Mangel an Aufmerksamkeit. Trotzdem schimpft der Mann, ballt sogar die Faust, auf der sein alter Ehering feststeckt. Niemals wird er ihn wieder abnehmen können. Damals war er selbst ja noch dünn wie ein Fahrradschlauch. Erst wenn er irgendwann krebskrank und ausgezehrt sein wird wie ein Skelett, fällt ihm der Ring vielleicht einmal vom Finger. Aber bis dahin …
    Er seufzt und steigt über den Frauenkörper hinweg (und der Schatten des Verkehrsschildes gleitet über sein Bein), dabei verfehlt er um Haaresbreite ihr Handgelenk, fast wäre er drauf getreten.
Knack
. Aber selbst wenn, dann hätte er die fremde Hand nur mit einem Taschentuch gesäubert und wäre davongerannt – und hätte sich erstan der nächsten Straßenecke umgedreht und mit Genugtuung festgestellt, dass sein altes Herz noch immer zu schlagen versteht, tatsächlich, mitten in dieser Einöde. Endlich schlägt es wieder.
    Ein Vogel landet im dichten Gebüsch neben dem Gehsteig, wo die bewusstlose Frau liegt. Aber er sieht nur Zweige, Dornen, Gestrüpp: eine eigenartige Welt. Er schüttelt den kleinen Kopf, dann hebt er surrend ab.
    Viele Menschen gehen hier entlang, auch auf der anderen Straßenseite, wo ihre Schatten mit absurd langen Füßen an der Wand tanzen. Kinder werden langsamer, fragen etwas, und Mütter antworten, allerdings erst, wenn sie an der Liegenden vorübergegangen sind.
Nicht anfassen. Ist vielleicht schmutzig. Außerdem ist es schon spät, wir müssen weiter
.
    Mehrere Male klingelt es unter der Frau auf dem blutgetränkten Asphalt.
    Der Schatten des Zeigers wird immer kürzer und wandert langsam über sie hin, bis er sich irgendwann löst. Wie ein plötzlich abreißendes Gummiband.
    Die Luft ist angenehm warm.
    In einer Nebenstraße hupt ein Auto. Es ist so windstill, dass ein Luftballon schnurgerade nach oben fliegen würde, wenn man ihn losließe.
    Ein unsichtbares Flugzeug zieht einen zarten Kondensstreifen hinter sich her.
    Im nahen Volksgarten geht ein Junge spazieren, einer, der sich oft hier herumtreibt, und jeder, der ihn sieht, weiß, dass er eines jener verwahrlosten Kinder sein muss, von denen man andauernd in der Zeitung liest, die sich oft bis zum Abend im Park aufhalten und irgendetwas aushecken. Wahrscheinlich ist ihm langweilig, denn er vollführt einen seltsamen Tanz: drei schnelle Schritte nachvor, dann lässt er sich auf die Knie fallen, aber Gott sei Dank immer ins weiche Gras, sonst würde er sich wehtun. Außerdem muss er ständig achtgeben, dass er nicht in einen Hundehaufen fällt, von denen hier jeder Zentimeter voll ist, jeder Strauch, jede Holzbank. Es ist für die herbstliche Jahreszeit noch recht warm, und da gehen die Leute gern mit ihren Hunden spazieren. Oder Hunde rennen herrenlos und glücklich über die Wiesen, wie im Paradies. Auch so was kommt vor.
    Der Junge, dem die Knie nun doch ein wenig wehtun, holt sein Handy hervor. Es ist das allerneueste Modell, mit Kamera, die so viele Pixel hat, wie es Einwohner gibt in Österreich. Für jeden Kopf ein kleiner Bildpunkt. Er sieht sich zum x-ten Mal den Film an, den er gestern Abend

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