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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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eines perfekten gleichseitigen Dreiecks hatte), und als ich in den reparierten Spiegel blickte, saß mein linkes Auge plötzlich unsicher blinzelnd auf meiner Wange. Missmutig grinsend vertauschte ich die beiden Teile.
    Jetzt war alles wieder an seinem Platz. Zwar befand sich ein feines Netz von Bruchstellen, zwischen denen schwarzer Kleber hervorquoll, auf dem Spiegel, aber damit konnte man leben. Zur Feier der geglückten Instandsetzung schnitt ich Grimassen.
    Mein linkes Auge fiel mir auf. Ich zog das Lid etwas herunter, und ein ungesundes Rot kam zum Vorschein, wie brennende Wolken am Horizont. Bestimmt hatten die giftigen Dämpfe des Klebstoffs meine Schleimhäute entzündet.
    Es war früher Morgen, als ich mich zu Valeries Praxis aufmachte. Ich war etwas unsicher beim Gehen, denn ich hatte eine Nacht hinter mir, in der ich nicht mehr als zwei Stunden geschlafen hatte. Um sieben Uhr waren die Straßen bereits voller Menschen, aber die Praxis befandsich in einer jener besonders windstillen und ruhigen Seitengassen, die zwar so breit sind wie manche Hauptverkehrswege, aber trotzdem unter einem merkwürdigen Schutzzauber daliegen und sich einfach nicht von der Stelle rühren. Lässt man in einer solchen Straße etwas fallen, einen Knopf, eine Münze oder eine Zigarette, erscheint es einem fast wie ein unnötiger Eingriff in ein natürliches Gleichgewicht.
    In einem kleinen, kompakten Café, das entweder
CHILL
oder
WLAN
hieß (genau ließ sich das nicht feststellen), kaufte ich mir einen Kaffee. Der weiche Pappbecher wurde nach wenigen Augenblicken bereits brennend heiß, außerdem schwappte die Flüssigkeit trotz des schnabelförmigen Schutzdeckels, durch den man trinken musste, ständig über meine Finger. Ich ging viel zu schnell, dabei hatte ich nicht einmal einen Grund, mich sehr zu beeilen. Die Praxis sperrte erst um acht Uhr auf.
    Die Straße lag da wie immer, unbeweglich und rein. Vielleicht war in der Nacht eines jener großen, orangen Kehrfahrzeuge hier durchgefahren, lautlos, die Rotationsbesen und Wasserdüsen ausgeschaltet, und der Fahrer lächelte aus seiner schalldichten Kabine hinunter auf den Asphalt der in einen Dornröschenschlaf versunkenen Straße.
    Ich kam an einer Reihe geöffneter Fenster vorbei, die zu einem Lern- und Nachhilfeinstitut gehörten und in denen breite Gitterstäbe wuchsen. Ein Geruch nach Turnhallen und Umkleidekabinen drang aus den Fenstern und beschwor dunkel verworrene Schulerinnerungen herauf. Fußballspiele, verbissen, in zu kurzen Hemden. Der unüberwindliche Barren, mit jahrhundertealten Wetzstellen auf dem bleichen Holz. Ein asthmatisches Trampolin. Ein düsterer Metallschrank voller Hockeyschläger. Nie verwendeteMedizinbälle, schwergewichtig und in sich ruhend wie Buddhastatuen.
    Es tat gut, hier entlangzugehen, der Körper erledigte alles von allein: ganz oben der wachsame Kopf, der Pilot, dann der bewegliche Oberkörper, die Balance, und darunter die automatisch dahintrabenden Beine, links, rechts, links, rechts. Sie irrten sich nie. Niemals kam zweimal hintereinander
rechts
oder
links
.
    Ein herrlicher Tag. Ich hatte zwar nicht viel geschlafen, aber ich hatte einen Kaffee getrunken und ich hatte etwas vor.
    Als ich das Haus Nummer 14, wo Valerie ihre Praxis hatte, erreichte, sah ich etwas Seltsames. Direkt vor dem Haustor lag ein schwarzes Knäuel aus Kleidern, das sich hob und senkte. Ein Bettler vermutlich. Ein Zahn, der der Gesellschaft über Nacht ausgefallen war. Er trug eine braune Pelzmütze, so wie sie Eskimos tragen mochten. Er hatte die Augen geschlossen, aber man konnte sehen, dass er nicht wirklich schlief. Er wartete.
    Ich beachtete ihn nicht weiter, nahm mir aber vor, ihn um fünf vor acht von dem Hauseingang zu vertreiben.
Gehen Sie! Das hier ist kein Stundenhotel!
Dummer Satz.
Hauen Sie ab!
Ob er gewalttätig werden würde? Bestimmt übertrug er Krankheiten wie die Stadttauben und die unscheinbaren Spatzen in den Gastgärten irgendwelcher Cafés.
Schau zu, dass du weiterkommst, dreckiges Schwein!
Möglichst ordinär, um gleich durchzudringen. Versoffene Wracks. Tun alles für Geld.
    Ich durchsuchte sicherheitshalber meine Hosentaschen nach Kleingeld. Wenn der Penner tatsächlich Widerstand leisten würde, konnte man ihn immer noch bestechen.
Da! Geh Bier kaufen. Aber komm nicht zurück!
    Ich ging bis ans Ende der Straße. Ein Lieferwagenstand dort vor einem Haus und wartete, dass irgendetwas passierte. Ich wartete ein paar Minuten mit ihm, aber es

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