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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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geschah nichts. Niemand kam. Das Dach des Hauses war teilweise abgedeckt. Über die freien Flächen waren große farbige Leintücher gespannt.
    Ich fand eine Zwei-Euro-Münze und steckte sie griffbereit in die äußere Manteltasche.
Los, fang! Hepp!
    Meine Armbanduhr sagte mir, dass es höchste Zeit war umzukehren. Schon von fern sah ich, dass der Bettler immer noch in der gleichen Stellung vor dem Hauseingang kauerte. Ich betete im Stillen darum, dass er sich nicht angemacht hatte oder womöglich verletzt war. Das waren diese Gestalten ja oft. Manchmal, vor allem im Sommer, konnte man sie mit notdürftig verbundenen Unterarmen herumlaufen sehen. Eine Unmenge rotfleckiges Klopapier um einen Fingerstumpf gewickelt. Aufgeplatzte Lippen, wie das Innere einer Muschel, die auf dem Herd verbrannt ist.
    Als ich vor den Mann hintrat, schreckte er hoch. Er stand auf, putzte sich den Ärmel ab. Ich wollte etwas sagen, meine Hand versank in der Manteltasche, berührte die warme Münze, mein Notargument – da nickte mir der Mann zu, als würde er mich erkennen, und drehte mir den Rücken zu. Sein Blick richtete sich auf die geschlossene Tür, neben der sich das Messingschild mit Valeries hübschem Namenszug befand. So blieb er stehen und rührte sich nicht.
    Ich nahm die Münze aus der Tasche und hielt sie hoch.
    – Entschuldigen Sie, sagte ich. Ich würde hier gerne rein.
    Er drehte sich um, lächelte.
    – Ich bin Erster, sagte er.
    Um sicherzugehen, dass ich auch begriff, was er meinte, deutete er mit einem gespielt fragenden Gesichtsausdruck auf das Messingschild. DR in . VALERIE MESSERSCHMIDT. Ich nickte automatisch. Ja, sie. War das ein französischer Accent auf dem einen E ihres Vornamens? Ein Sprung im Messing?
    – Wird gleich aufgesperrt, sagte der Mann zur Tür.
    Hinter mir hörte ich Schritte, ich drehte mich um. Vor mir stand eine Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt. Sie nickte mir höflich zu. Das kleine Mädchen nagte am Daumen ihres Handschuhs.
    Nach ein paar Minuten kam ein Mann mit einer Augenklappe.
    Um acht Uhr zählte die Schlange bereits neun Menschen. Ich war der Zweite in der Reihe. Die Tür wurde von einem jungen Mann aufgesperrt, der uns kurz musterte und dann aufforderte,
langsam
einzutreten. Auch auf der Treppe behielten die Menschen die Reihenfolge der Warteschlange bei. Vor der Tür zur Praxis standen wir noch einmal an, allerdings nur für kurze Zeit, aber immerhin lange genug, dass sich die Ordnung auflöste. Nachdem wir eingelassen worden waren, drängelten sich alle vor dem Anmeldeschalter.
    Leise Radiomusik kam aus den Wänden. Ein Telefon läutete melodisch in irgendeiner Ecke und niemand hob ab. Eine Sprechstundenhilfe ging an mir vorbei. In ihrem Ohr steckte ein Hörgerät, das wie geschmolzenes Wachs aussah.
    Gleich würde ich Valerie sehen, ich konnte es kaum erwarten. Gleich würde ich erfahren, warum sie gestern nicht gekommen und auch bei sich zuhause nicht erreichbar gewesen war. Gleich würde sie mir, einem unerwarteten Patienten, der gar keiner war, erzählen, wie sie ihrTelefon verloren und auf der Suche danach die Zeit übersehen hatte. Oder es hatte einen Notfall in ihrer Nachbarschaft gegeben. Ein brennendes Haus, eine entlaufene Katze. Wer weiß. Gleich, gleich.
    Mein Herz klopfte Synkopen der Vorfreude.
    Aus dem einen Menschen vor mir waren drei geworden.
    Ich hielt die Anspannung nicht mehr aus.
    – Werfen wir eine Münze!
    Ein paar Leute starrten mich an – ein Verrückter, der mit ziemlich lauter Stimme sprach:
    – Los! Wir werfen eine Münze, um zu sehen, wer als Erster drankommt!
    Bevor mir irgendjemand widersprechen konnte, schnippte ich die Münze mit dem Daumen in die Höhe. Sie drehte sich, ein winziger Propeller, eine transparent flirrende Kugelform, erreichte ihren höchsten Punkt, wo sie kurz in der Luft stehen blieb, schließlich fiel sie auf den Teppichboden, und ein paar Männer beugten sich über sie, als wäre tatsächlich eine Entscheidung gefällt worden: ein Kranz von neugierig herabblickenden Gesichtern, wie man sie aus Operationssälen oder Träumen vom merkwürdigen Beginn des Lebens kennt.

Messerschmidt
    Der Wind griff in das grün bespannte Baugerüst und verlieh dem Haus für Sekunden wilde, sich gegen den Himmel aufbäumende Segel. Das Haus aber bewegte sich keinen Zentimeter. Im Gegenteil, damit es sich auch wirklich nicht vom Fleck rühren konnte, wurde es an einem Fahrrad festgezurrt.
    Eine schlanke Gestalt löste sich von dem

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