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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Prosaschriftsteller gelten? Ohne Zweifel der bedeutendste amerikanische Autor zur Zeit. Aber den kannte Michael ohnehin nicht. Um nicht länger dumm auf die Bücher zu starren und um höflich zu sein, zeigte ich auf Charles Dickens, der mehrbändig im Regal stand, und sagte im Tonfall eines vollkommenen Idioten:
    – Das da hab ich gelesen.
    Lydias Vater senkte den Kopf und lächelte.
    – Nimm’s ruhig heraus.
    Ich nahm die
Pickwickier
heraus, spielte ein wenig damit und versuchte dann, das Buch zurück an seinen Platz zu stellen, aber dafür brauchte man entweder sehr viel Kraft oder ein wenig Gleitcreme; es wollte einfach nicht mehr in die Lücke. Lydias Vater, der sich mir als Michael vorgestellt hatte, nahm mir das Buch aus der Hand und ließ es mit einem kompliziert aussehenden, blitzschnellen Fingergriff zwischen die anderen Bücher (
Bleak House
,
Oliver Twist
) zurückwandern. Dabei entstand ein sonderbares Geräusch, ein Raunen der gegeneinander reibendenBucheinbände. Als Michael noch einmal mit der Hand über die Buchrücken strich, wie um eine vom Wind zerzauste Oberfläche zu glätten, war es noch einmal zu hören.
    – Das klingt witzig, sagte ich. Darf ich mal?
    Er wusste überhaupt nicht, was ich meinte, trat aber einen Schritt zurück. Ich fuhr mit der Hand über die Bücher und erfreute mich an dem Geräusch.
    – Das meinst du?, fragte er.
    – Ja, sagte ich. Klingt gut.
    – Viele, viele Bücher, nicht?, sagte Michael. Was ist denn dein Lieblingsgeräusch?
    – Ach, Michael!
    Seine Frau war gerade ins Zimmer gekommen und hatte ihren Mann bei seinem Frage-und-Antwort-Spiel ertappt. Ich schnitt in der Regel eher schlecht ab, denn er hielt mich für einen ausgemachten Holzkopf.
    – Was denn? Ich mach doch nur Spaß. Ist doch in Ordnung, Alex, oder?
    – Ja, sagte ich.
    – Aber, beharrte seine Frau, vielleicht sind wir gerade nicht in Stimmung. Steck den alten Fragebogen weg.
    – Aber wenn Bernard Pivot darf, darf ich auch. Und immerhin hat Proust himself diesen Fragebogen beantwortet. Damals war das ein Gesellschaftsspiel, ich meine –
    – Michael, bitte.
    – Na schön, wie du willst, sagte Michael. Dann eben nur
ein paar
Fragen. Also, dein Lieblingsgeräusch?
    Der Klang einer einzelnen Hand, die im Wald um Hilfe klatscht, obwohl niemand da ist, um sie zu hören oder aus ihrem Elend zu erlösen. Das Geräusch von geschlossenen Lippen. Stille. Nur fünf Minuten Ruhe.
    – Regen, sagte ich schließlich.
    Stille ist auch ein Geräusch, aber eines, das immer lange Diskussionen nach sich zieht, also vermied ich die Anspielung. Michael wartete eine Weile, ob meine Antwort schon alles war, wozu ich fähig war, dann erlaubte er seinem Gesicht, Enttäuschung zu zeigen. Mein Gott,
Regen
. Wie originell.
    – Okay, sagte er.
    Ich hätte mehr sagen sollen, er hatte irgendeine spannende Kombination von Geräuschen erwartet. Aber jetzt war es dafür zu spät. Es war zu spät für:
Regen, der auf ein erfrorenes Sonnenblumenfeld fällt
, oder:
Schnee, der auf dem VIP-Parkplatz eines Krankenhauses knistert, in welchem gerade ein männlicher Nachkomme zur Welt kommt
.
    – Was ist deine Lieblingsblume? Oder nein, besser: Welches militärische Ereignis bewunderst du am meisten?
    Ich überlegte eine Weile.
    – Vergissmeinnicht, sagte ich schließlich.
    Er schaute etwas betreten, dann lachte er, ja, haha, er hatte verstanden. Er kicherte.
    – Gute Antwort, sagte er. Stimmt, militärische Ereignisse … in solchen Kategorien denken junge Menschen heutzutage nicht. Ich glaube sogar, Proust himself hat auf diese Frage irgendetwas Blödes geantwortet wie …
meine eigene Einberufung
… oder etwas in der Art.
    – Gut, das war’s, sagte seine Frau.
    – Warte, nur noch eine, sagte er und seine Stimme war freundlich. Also, wer ist dein Lieblings-Prosaschriftsteller, außer Dickens?
    Deine auffallendste Eigenschaft?
    Etwas musste mir ins Auge geflogen sein, vielleicht beim Radfahren. Vielleicht auch, als ich inmitten von gelblichenZigarettenleichen am Boden lag, mit dem schweren, wütenden Stiefel von Max auf meiner Brust. Oder irgendwo anders, jedenfalls tat mir das Auge beim Blinzeln so weh, dass ich es nicht mehr aufbekam. Ich musste zum Augenarzt.
    Und immer noch kein Anruf von Valerie.
    Dafür ein kleiner Warteraum, der erste Kreis der Hölle. Alte Menschen, die jemand auf moderne Designermöbel gesetzt und anschließend dort vergessen hatte. Ein Haufen Magazine mit zweidimensionalen Gesichtern. Mit weinendem

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