Die Frequenzen
Selbstmord sprechen, gar nicht öffnen kann, die Rebellion gegen das kränkliche Licht der Deckenlampen. Wie kann etwas nur so hässlich sein und trotzdem Licht spenden?
Im Aufenthaltsraum ist niemand. Ich gehe hinein, lese die Titel der Bücher, die dort in einer Vitrine eingesperrt leben.
Segen der Erde
.
Die Gösta-Berling-Saga
.
Waldheimat. Kristin Lavranstochter. In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus
.
Ich schalte den Fernseher ein. Massenhysterie kleiner Punkte. Eine Fernbedienung findet sich nicht, also schalte ich am Gerät weiter.
Eine Sitcom.
Jason, hast du etwa die Dartpfeile runtergeschluckt? Sag’s mir, na los, spuck’s aus
. Gelächter toter Menschen.
Werbung. Aufgeregte Mädchen:
Baby Poop hat gepinkelt!
Sumoringen.
Tiere. Eine Dokumentation über Zecken. Ich setze mich. Um zu überleben, befallen die Zeckenlarven ein Küken, das langsam schwächer wird, nicht mehr fressen kann und schließlich im Nest untergeht, immer noch geborgen zwischen den Geschwistern, aber unendlich müde und verwirrt ins Tageslicht blinzelnd. Die Mutter nähert sich dem bereits toten Küken, quakt, klappert mit dem Schnabel:
Beeil dich, du musst dich doch bewegen, ich helfe dir, deine Geschwister sind schon beim Spielen
. Das Klappern ist ein Zeichen dafür, dass eine Fütterung bevorsteht,es regt den Appetit an – umso unverständlicher, dass das Küken einfach nicht reagieren will. Die Mutter versucht es noch einmal,
Klapp, Klapp, Klapp
. Sie stupst das Küken sogar mit ihrer Schnabelspitze an:
Jetzt aber los, schnell, bald bist du auf dich allein gestellt, du musst noch viel nachholen
. Aber nichts zu machen, das Küken bewegt sich nicht. Die Mutter setzt sich darauf, behutsam, zutiefst verwirrt, denn Unbeweglichkeit weckt ihren Brütinstinkt, dann erst setzt die Trauer ein: Nachher steht sie ratlos im Schilf und meidet das Nest wie eine Todesfalle.
Ich schalte den Fernseher aus, gehe nervös auf und ab. Was, wenn ein todkrankes Kind diese Sendung gesehen hätte? Ist jemand da? Ich schaue mich um. Nein, niemand. Auch draußen auf dem Gang ist alles leer und still.
Mein Jojo rutscht mir vom Finger und rollt davon, unter einen Tisch.
Draußen vor dem Fenster hat der Himmel die Farbe von Auberginen angenommen. Man sieht noch die schwachen Silhouetten von Bäumen und hohen Gebäuden.
Das Jojo ist jetzt so schmutzig, dass ich es einstecke. Es gibt nichts zu tun, also gehe ich am Gang spazieren. Was will ich hier im Krankenhaus, wenn man mich doch nicht zu ihr lässt?
Die Zecken aus der Dokumentation erinnern mich an einen Nachmittag mit meinem Vater, der mir fluchend den Kopf waschen musste, als ich einmal mit Läusen aus der Schule nach Hause kam. Er verwechselte Läuse mit Flöhen und erzählte mir, dass Flöhe vor allem Frauen befielen. In einem Buch habe er sogar ein kleines Bild aus dem achtzehnten Jahrhundert entdeckt, auf dem eine tragbare Flohfalle dargestellt war, ein Modell eigens für Frauen, das man an einer Kette um den Hals tragen und, zwischen dieBrüste geklemmt, vor den angewiderten Blicken der Welt verstecken konnte.
– Flöhe sind von Grund auf verbunden mit solchen Dingen, sagte er gedankenverloren und bestaunte seine weißen, schaumverschmierten Hände.
Ich erinnere mich daran, dass mein Kopf selbst nach dem Waschen noch juckte, an den entsetzlichen Gestank des Läuseshampoos und an den Moment, da meine Mutter nach Hause kam. Sie beruhigte zuerst meinen Vater und erlaubte ihm, wieder in seinem Arbeitszimmer zu verschwinden, dann erst widmete sie sich mir. Sie wusch mir ein zweites Mal den Kopf und befragte mich über die möglichen Quellen der Ansteckung. Wahrscheinlich erwartete sie eine pikante Enthüllung: der erste Kuss, das erste Mal am Haar eines Mädchens gerochen. In Wahrheit hatte ich einen Erstklässler verprügelt, dessen Kleidung mich aus unerfindlichen Gründen wütend gemacht hatte. Ich war zu der Zeit unheimlich reizbar. Ich schlug ihm ins Gesicht, dann rollten wir über den Gang, ineinander verbissen wie zwei Hunde. Die anderen Schüler beklatschten uns.
Der Juckreiz auf meinem Kopf ging in ein beständiges Brennen über. Anfassen war verboten. Ich hatte so schon genug Blut unter meinen Fingernägeln.
An jenem Tag kam mein Vater nicht mehr aus seinem Arbeitszimmer hervor. Er schrieb und zeichnete den ganzen Abend lang, und meine Mutter musste ihm das Essen bringen. Wenig später holte sie die Teller wieder ab und sie wechselten ein paar Worte über den
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