Die Frequenzen
aus und legte es vor mich auf den Tisch, wie einen glühenden Stein.
Nervös ging ich im Zimmer auf und ab, so wie es schlechte Schauspieler tun, die Anwälte beim großen Schlussplädoyer verkörpern.
Ich fütterte das Buch, das ich heute Morgen angefangen hatte (
Das Konversationslexikon der Jenseitsmythen
, ich hatte es mir von Lydia ausgeliehen und nie zurückgegeben), mit einem Lesezeichen, obwohl ich die Seitenzahl jedes Mal automatisch im Gedächtnis behielt. Außerdem ist da diese seltsame Angewohnheit von Taschenbüchern, sich selbst an der Stelle, an der man sie verlässt, wieder aufzuschlagen, wenn man sie mit dem Rücken auf den Tisch legt. Die verlorene Seite erscheint, man erkennt sie auf den ersten Blick, und dann – ein zweiter, liebenswerter Effekt dieser Semi-Lebewesen aus Papier und Karton: Sie überlegen es sich anders, blättern sich selbst weiter, ein, zweiSeiten, die aufstehen, wie eine nicht zu bändigende Haarsträhne nach einer schlaflosen Nacht.
Es besänftigt mich, über Bücher nachzudenken, aber jetzt brauchte ich etwas Stärkeres. Ich musste jemanden umbringen.
Ich führte am Balkon ein imaginäres Telefongespräch mit jemandem, der ein schwaches Herz hatte. Nachbarn erschienen an ihren Fenstern, schauten zu mir herüber, schauten in den Himmel, dachten ihre unschuldigen Gedanken, nahmen ihre Heiligenscheine für einen Augenblick ab und klopften sie an ihrer Schulter ab. Kleine Staubwölkchen schwebten in der stillen Abendluft.
– Ach ja?, brüllte ich. Dann sag ich dir etwas … sie kommt bei dir nicht einmal im Entferntesten auf ihre Kosten, wenn du weißt, was ich meine … Ja … ganz genau … Ach, bitte, hör auf, ins Telefon zu röcheln, was soll denn das …? Hallo? … Ernst? … He, rede mit mir, verdammter Idiot! … Ernst! … Ich hör dich doch atmen! … Ach, Scheiße …
Ich wandte mich von der Welt jenseits des Balkongeländers ab, als brächte sie mich und Ernst auch nicht weiter, und ging wieder in die Wohnung.
Nach ein paar Minuten kehrte ich auf den Balkon zurück und tötete Ernst ein zweites Mal. Diesmal hatte er in meiner Vorstellung schon so etwas wie ein Gesicht. Es war groß und freundlich, es zwinkerte bei jedem stark betonten Wort, als wäre die ganze Welt eine einzige ulkige Angelegenheit, die man durch Augenblinzeln zum Leuchten bringen konnte. Er sah ein wenig aus wie Dienstag. Ich beschimpfte ihn so lange, bis er am anderen Ende der Leitung röchelnd zusammenbrach und blutige Klumpen hustete, kleine Montagsbruchstücke.
Stunden später bin ich wieder im Krankenhaus, bewaffnet. Mit einem krächzenden Reiben rollt sich das silberne Jojo an seiner Schnur ab, streift den Boden, lässt unsichtbare Funken sprühen und rollt sich zur Hälfte wieder auf. Ich versuche es durch ungeschicktes Zupfen in meine Hand zurückzuholen, aber es funktioniert nicht, mit starker Schlagseite eiert es auf und ab, wie eine Flugscheibe, die gerade im Begriff ist, über der Wüste von New Mexico abzustürzen.
Mein Gott, wie ich Krankenhäuser hasse.
Trotzdem gehe ich praktisch nur mehr zum Schlafen nach Hause.
Nach dem fünfzigsten Versuch gelingt es, und das Jojo
schläft
nicht nur – ein Fachausdruck aus der Jojo-Sprache, der den faszinierenden Schwebezustand bezeichnet, wenn das kleine wirbelnde Ding sich am tiefsten Punkt einfach weiterdreht, sodass man es wie einen Hund Gassi führen und sogar über ein paar Treppenstufen hüpfen lassen kann –, sondern es kehrt auch brav wieder zurück.
Heute muss ich warten, weil Valerie
umgetopft
wird. Dazu benötigt man frische Laken, einen feuchten Waschlappen und zwei dicke Schwestern, von denen die eine mutig genug ist, diesen Ausdruck auch vor Angehörigen zu verwenden, weil sie von oben bis unten von Zynismus durchdrungen ist und sich lebendig vorkommt wie ein junges Tier, wenn sie den entsetzten, hilflosen Ausdruck im Gesicht der Besucher sieht.
Ich sitze quer über zwei Sessel in der Nähe des Aufenthaltsraums und hypnotisiere die Tür, hinter der Valerie umgetopft wird. Ich lasse das Jojo über den Boden kullern und ziehe es zurück, es ist voller Staub.
Lydias Nummer erscheint mehrere Male blinkend auf meinem Telefon, aber ich nehme nicht ab.
Was ist dein Lieblingsereignis im aktuellen Kriegsgeschehen?
Der Kampf mit zwei tonnenschweren Krankenschwestern. Der Kampf gegen die unerträgliche Überlegenheit eines Spitalskorridors, gegen die Fensterscheiben, die man von innen wegen der vielen Gründe, die für
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