Die Frequenzen
dem Schreibtisch lagen. Ein Buch über die Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag, aufgeschlagen im Fototeil. Ein verschreckt aussehender Mann sitzt ineinem gläsernen Kasten wie eine historische Kuriosität in einer Museumsvitrine. Vor ihm ein Mikrophon.
Als ich auf Lydias Bett eine Liste entdeckte, auf der jede einzelne Zeile durchgestrichen war, gab es keinen Zweifel mehr, dass sie sauer war. Bestimmt hatte sie sich wieder betrunken, vielleicht hatte sie sogar ein wenig herumtelefoniert und dann eine Wunschliste geschrieben, um sie sofort wieder zu vernichten. Es war eine der Techniken, die sie sich als junge Frau zugelegt hatte, um mit ihrem Innenleben zurechtzukommen. Listen, Briefe, Alkohol. Ich versuchte zu entziffern, was für eine Liste es gewesen war, Restaurants, die sie in Zukunft gerne besuchen würde, oder Weihnachtswünsche oder einfach nur eine Liste mit interessanten Buchtiteln, aber sie hatte mit einem Edding-Stift gearbeitet, und außer ein paar Fragmenten von Wörtern war in der schwarzen Strichwolke nichts mehr zu erkennen.
Ich wanderte ein wenig durch die Wohnung, öffnete Schubladen und Fensterläden, um ihr durch beiläufige und harmlose Geräusche zu signalisieren, dass ich nach Hause gekommen war, dann hielt ich es nicht länger aus und ging ins Badezimmer. Es war stockdunkel und in der Dunkelheit hörte man Wasser schwappen. Nach einer Weile gewöhnten sich meine Augen an die Lichtverhältnisse und nahmen etwas wahr. Ein geheimnisvoll im Raum schwebendes Gesicht. Mein Gesicht. Ich stand vor dem Spiegel. Lydia räusperte sich. An ihrem Räuspern konnte man hören, dass das Wasser, in dem sie lag, eiskalt war.
Die Welt der Männer und die Welt der Frauen
Am meisten ärgerte Walter die alberne Formulierung
Frauengeschichte
, die er gegenüber seiner ahnungslosen Schwester gebraucht hatte. Als wäre er vor der Menstruation seiner Geliebten davongelaufen. Dabei lag seine letzte Bekanntschaft mit einer Frau in Wirklichkeit schon eine ganze Weile zurück.
Jessica, die erste Frau, mit der er ein Verhältnis hatte, war etwas älter gewesen als er und hatte ein schlimmes Alkoholproblem. Walter konnte sich nicht mehr an ihren Nachnamen erinnern, er wusste nur noch, dass er irgendwie schnuckelig gewesen war. Oft musste er sie, wenn sie in ihrem Bademantel auf dem Klo eingeschlafen war, mitten in der Nacht zurück ins Bett tragen, wo sie einen unangenehmen Geruch nach Schweiß und Magensäure verbreitete. Wenn sie wieder einigermaßen nüchtern geworden war, hatte sie einen unerhörten sexuellen Appetit, aber man durfte nicht mit ihr reden, sonst brach sie in Tränen aus oder beschwor das Jüngste Gericht herauf. Als Walter begann, seine Besuche bei ihr einzuschränken, wurde sie misstrauisch und begann ihn zu verfolgen. Wenn sie ihn dann mit Freunden antraf, schrie sie ihn ohne zu zögern an und erntete mehr als einmal die Bemerkung:
Ist das deine Mutter, Walter
? Dass er darauf nie antwortete, sondern nur schweigend zu Boden blickte, machte sie verrückt vor Wut, und sie bedrohte ihn lallend mit dem Tod, während sie mit ihrem Gleichgewicht kämpfte.
Er blieb mehrere Monate mit ihr zusammen, dann warf sie ihn eines Nachts einfach aus ihrer Wohnung, ignorierte schluchzend und wenig später würgend über der Kloschüsselsein inständiges Klopfen und schickte ihm dann sogar die Krawatte, die er in ihrem Schlafzimmer vergessen hatte, mit der Post. Tage später rief er sie an, aber sie hob nicht ab, also ging er zu ihr und klingelte unten an der Haustür. Ihr Kopf erschien an einem Fenster, dann tauchte ihre Hand mit einem Glas Wasser auf. Walter konnte gerade noch ausweichen und wurde nur an den Beinen etwas nass. Auf dem nassen Asphalt lag eine einsame Brausetablette und zischte.
Walter hatte kein Glück mit den Frauen. Er hatte versucht, Monologe und Essays über dieses Thema zu schreiben, und mancher bemerkenswerte Satz war ihm dabei auch gelungen, aber im Großen und Ganzen fielen ihm nur Gemeinplätze ein, für die er sich hinterher schämte. Er kam auf den Gedanken, dass er Frauen im Grunde nicht verstand, dass sie ihn faszinierten und irritierten, und obwohl er schon öfter das Glück hatte, mit einer zusammen gewesen zu sein, wurde er doch das Gefühl nicht los, von ihnen zu viel zu verlangen. Anfangs hatte es zwar immer geklappt und alles, aber je mehr er über sein Verhältnis zu Jessica, Magda und Nina (diese drei waren es bisher gewesen) nachdachte, desto seltsamer und unnötiger
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