Die Frequenzen
Protestbriefen überschwemmt den Schulinspektor und das Unterrichtsministerium. Weitere Kinder sterben. Überall überforderte Ärzte. Der Lehrer wird zu einem Gespräch vorgeladen und erzählt nüchtern und klar von den Strahlenexperimenten. Währenddessen beginnt er sich aufzulösen. Seine Zunge stößt plötzlich durch die Haut seiner Wange, was keiner der Untersuchungsbeamten bemerkt. Er schüttelt den Kopf und geht nach Hause. Als er an einer Bank vorbeikommt, hebt er etwas Geld ab für seine Schwester, der es schlechter und schlechter geht, wie sie ihm in ihren E-Mails aus Luzern mitteilt. Seit einigen Wochen wohnt sie nun schon dort, sehr weit weg, findet er, wirklich sehr weit weg von Zuhause.
– Und dann?
– Ach, keine Ahnung. Magst du noch ein Käsebrot?
– Nein, danke.
Er machte keinerlei Anstalten zu gehen.
Eine Geschichte über einen Mann, der eines Morgens erwacht und den ausgestreckten Zeigefinger seiner Frau in seinem linken Auge hat. Er fällt aus dem Bett. Die Frau schläft noch, aber ihr gestreckter Arm mit dem langen, dünnen Finger folgt ihm wie ein Magnet, während er durchs Zimmer geht. Er flüchtet aus dem Haus. Auf der Straße dasselbe rätselhafte Bild: Alle Menschen haben sich verwandelt – alle Zeigefinger sind auf ihn gerichtet, folgen ihm wie hypnotisierte Schlangen den Bewegungen der Flöte. Im Übrigen scheinen ihn die Menschen aber gar nicht zu bemerken. Sie erledigen ihre alltäglichen Dinge, soweit sie dazu einarmig in der Lage sind. Lächerlich, denkt der Mann. Warum tun sie das, sie machen es sich doch selbst schwer! Sieh nur diesen Radfahrer, er schlägt mit seiner Hand an jeder Laterne an, nur damit er auf mich zeigen kann! Der Mann kommt zur Arbeit, etwas zu früh, weil er ja überstürzt aus der Wohnung geflohen ist. Als er die Tür öffnet, hat er auch schon den Zeigefinger des Portiers mitten auf der Stirn. Seine Arbeitskollegen verrenken sich, als er eintritt: Alle Arme drehen sich wie Kompassnadeln zu ihm, die Sekretärin rammt mit ihrem Arm, der ausschlägt wie eine Wünschelrute, sogar den Wasserspender, der natürlich umkippt und alles überflutet. Ein etwas beleibterer Kollege bleibt mit seiner ausgestreckten Hand hilflos im Türrahmen stecken und kann nur mit Mühe wieder befreit werden. Der Mann kichert über das ganze Schauspiel. Schuldzuweisung, denkt er, ha, das haben sie jetzt davon. Und er nimmt ein kleines blaues Band von seinem Schreibtisch und bindet eine Schleife auf den Zeigefinger seines Sitznachbarn, der direkt auf seinHerz zeigt. Aber als er die letzte Schlaufe zuzieht, erwacht die Kompasshand aus ihrer Starre, packt ihn am Hals und erwürgt ihn.
Die Geschichte vom bucklichten Männlein. Eine junge Frau wohnt mit ihrem Kind in einer kleinen Hütte am Rand des Dorfes. Im Dorf munkelt man, dass sie eine Prostituierte ist. Das bucklichte Männlein kommt zu ihr in die Hütte und setzt sich an den Frühstückstisch. Die junge Frau bemerkt es gar nicht, sondern füttert weiter ihr zappeliges Kind mit einem Löffel:
So, schau, jetzt kommt das Flugzeug: Drrrr
. Das bucklichte Männlein tut es dem Kind gleich und öffnet den Mund, versucht ein paar glucksende Laute, aber es nützt nichts. Anschließend geht die Frau zum Spinnrad und beginnt sich rhythmisch mit dem Gerät hin und her zu wiegen. Das bucklichte Männlein stellt sich vor ihr auf, springt hin und her, zupft sie am Rocksaum, aber es kann ihre Aufmerksamkeit nicht erregen. Am Nachmittag schleppt die junge Frau leere Milchkanister zu ihrem Nachbarn. Das bucklichte Männlein, schon etwas nervös, trippelt hinterher, klopft erwartungsvoll gegen die Kanister, springt sogar in einen hinein, aber wieder keine Reaktion. Es wird Abend, die junge Frau bringt ihre Tochter zu Bett und zieht sich zum Schlafengehen um. Sie streift ihre Kleider vor den dunklen Fenstern ab, betrachtet lange einen kleinen Kratzer auf ihrer Schulter, streicht ein paar Mal gedankenverloren über ihre Brüste, wiegt sie, ebenso gedankenverloren, und befindet sie für zu schwer. Das bucklichte Männlein hält es nicht länger aus, es springt auf die junge Frau, hängt sich an eine Brust, fährt mit seinen kleinen Krallen durch ihr Haar und schafft es, dass die junge Frau das Gleichgewicht verliert. Sie fällt rücklings auf ihr Bett, das Männlein kugelt aufden Boden. Die junge Frau packt das bucklichte Männlein und zerrt es zu dem Ofen, der noch knistert. Laut weint das Männlein und bittet um Vergebung, es hätte ja nur eine
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