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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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egal sein! Im Zweifelsfall ist dir ja immer alles egal!
    – Also, noch mal von vorn. Wenn du sagst, du nimmst die Tabletten nicht mehr, heißt das, dass du sie einfach nicht mehr nimmst oder dass du sie nicht mehr brauchst?
    –
Diese
Tabletten habe ich mit Sicherheit noch nie gebraucht! Wer braucht schon Tabletten, um ausgerechnet die wichtigen Dinge zu vergessen?
    – Aber das sind doch nur Nebenwirkungen, sagte ich und deutete mit einer Hand hilflos im Raum herum. Wenn dein Körper sich erst einmal daran gewöhnt hat, dann …
    Ich bemerkte, dass ich gar nicht wusste, wovon ich sprach.
Körper, sich gewöhnt. Nebenwirkungen
. Sie war einkaufen gegangen, mit Zettel und allem. Sie hatte keine hundert Glühbirnen oder zwanzig Wassermelonen oder einen Do-it-yourself-Gartengrill gekauft, sondern sinnvolle Dinge. Bis auf die drei Müslipackungen.
    – Warum hast du mich nicht gefragt, ob ich mitgehe?, fragte ich.
    – Ich nehme die Tabletten nicht mehr, sagte sie.
    Das versilberte Steak wanderte in das Tiefkühlfach. Vor dem Mund meiner Mutter bildete sich für einen Augenblick eine fast unsichtbare, weiße Atemwolke.
    – Ja, ich weiß, du nimmst die Tabletten nicht mehr. Das hast du schon gesagt.
    – Nein, ich habe es
nicht
zweimal gesagt. Die Be
ton
ung war anders! Hörst du denn überhaupt nicht zu? Ich
nehme
die Tabletten nicht mehr, das bedeutet soviel wie:
auch in Zukunft nicht
. Und wenn du es unbedingt wissen willst, ich brauche niemanden, der auf Schritt und Tritt auf mich aufpasst.
    Ich werde mich gut benehmen, denke ich auf dem Weg zu meiner Mutter. Ich werde mich wohlerzogen geben, obwohl ich das nicht bin und nie war. Ich werde Messer und Gabel in der richtigen Reihenfolge in die Hand nehmen und wieder ablegen.
    Tischmanieren sind wie Grundrechnungsarten. Sie werden gelehrt, ohne dass sie einer tieferen Begründung bedürfen. Gleichzeitig sind sie so aufgeladen mit labyrinthischen Moralvorstellungen, dass sie allein schon für die Gründung einer Religion ausreichen würden. Eine Gabel, im falschen Winkel zum Messer auf dem Teller. Ein Ellbogen, der sich auf den Tisch verirrt. Ein Wasserglas, das noch vor dem ersten Löffel Suppe geleert wird.
    Die Grundrechnungsarten führen in die unbegreifliche Welt der Mathematik, unbegreiflich in ihrer Konsistenz und Stimmigkeit, wo die richtigen Ergebnisse (diese sonderbaren Objekte, die man
wahre Aussagen
nennt) immer zugleich die allerunwahrscheinlichsten sind. Manieren führen in eine analoge Welt, die allerdings unsichtbar bleibt (im günstigsten Fall ist sie noch einem Diskursanalytiker oder einem Archäologen zugänglich). Sie sind verantwortlich für die meisten Episoden von scheinbar fremd gesteuerter Besessenheit, von unerklärlichen Schuldgefühlen und der herrlichen Genugtuung, die einem erwachsenen Verstand das sinnlose Abzählen von Lichtern in einem Lesesaal bereitet, das Balancieren auf den schwarzen Kästchen, wenn man über ein Schachbrettmuster geht, oder das Antippen jeder dritten (nicht der zweiten und nicht der vierten) Geländersprosse auf dem Weg zu einem wichtigen Termin im Gerichtsgebäude oder im Krankenhaus, mit schweißnassen, zittrigen Händen.
    Die zwei Metalltüren des Krankenhauslifts schmolzen zusammen, als wären wir, die Fahrgäste, ein Paket für denOfen. Ein Mädchen mit verbundenem Kiefer stieg ein. Zwei Männer gesellten sich dazu, einer mit einem Kaktus in der Hand. Ein Krankenpfleger mit gelbem Solidaritätsarmband. Halt im zweiten Stock. Drei Krankenpfleger. Halt im dritten Stock. Drei Krankenpfleger und eine Schwester. Das Mädchen stieg aus. Halt im vierten Stock. Der Kaktus-Mann und ich stiegen aus.
    Der Linoleumboden in Krankenhäusern, der so aussieht, als wäre er ständig nass.
    Ein Rollstuhlfahrer spiegelte sich vage im Boden und brachte eine ferne und sehr unscharfe Erinnerung an die Korridore meiner Schulzeit mit sich.
    Das Sonnenlicht blendete mich. Also musste ich die Gesichter, die, vollgesogen mit düsteren Vorahnungen, an mir vorbeizogen, noch nicht beachten. Das helle Licht im Linoleum verschwand erst, als ich um eine Ecke bog.
    Das ist nicht ohne Grund passiert, sagte die Stimme meiner Mutter vor siebzehn Jahren in meinem Kopf.
    Der Riss, breit und unübersehbar, mitten in der Wirklichkeit.
    Schon von weitem erkannte ich Valeries Angehörige. Sie standen am Ende des Ganges um einen Arzt versammelt, kreisten ihn ein, ließen ihn nicht entkommen, bis er ihnen die korrekte Auskunft erteilt hatte.
    Ich wandte

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