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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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mich ab und machte es mir im Aufenthaltsraum bequem. Ich schaltete den Fernseher ein; CNN, ein Sender, der den ganzen Tag seltsam verträumte Werbungen für diplomatentaugliche Hotels bringt. Und natürlich läuft in jedem dieser Hotels, wenn man den Fernseher einschaltet, wieder nur CNN und zeigt Hotelwerbungen. Ein ewiger Teufelskreis.
    Nach einer Weile trat ich auf den Flur hinaus, dieGänge waren verlassen. Gras wuchs am Rand der Linoleumböden. Als hätte ich tausend Jahre geschlafen.
    Ich kam in einen leeren Operationssaal. Eine große, dreiäugige Lampe schaute auf ein leeres Operationsbett herab, fast mitleidig, wie ein schwerer Sonnenblumenkopf. Das lange Metallgestell der Lampe war verziert mit einer Efeuranke.
    Alle Fenster waren grau von Staub, und getrocknete Regentropfen hatten dicke Schlieren hinterlassen.
    Im Gang lag ein auf die Seite gekippter Rollstuhl. Auf einem Rad hatte ein Vogel ein Nest gebaut, das längst verlassen war. Langsam drehte das Rad sich im Kreis, und kleine Zweige rieselten durch die Speichen auf den Boden.
    Auf einer Mauer wanden sich elegante Graffiti mit großen Kanji-Schriftzeichen, die Gott weiß was bedeuten mochten. Ich stellte mich an ein Fenster und sah hinaus. Ich hatte das Gefühl, das einen im Zug befällt, wenn man eine Station zu weit fährt, weil man versäumt hat auszusteigen, und nun langsam aus dem Bahnhof rollt, unterwegs zur nächsten unbekannten Haltestelle.
    Eine Passage aus einer der rätselhaften Reisebeschreibungen Pierre Duhamels kam mir in den Sinn. Als er auf seiner Wanderschaft in ein Dorf kam, das von der Pest fast zur Gänze entvölkert war, ging er, um zu rasten und weil ihm schien, es sei der einzig sichere Ort im Dorf, in die Kirche. Dort hörte er ein Geräusch, und er ging ihm nach. An der Stelle, wo die langen Seile zum Läuten der Kirchenglocken von der Decke herabhingen, baumelte ein Kind. Es hatte sich, klein wie es war, einfach auf den Knoten am unteren Ende des Glockenseils gesetzt. Und darauf schaukelte es. Hunger und Einsamkeit hatten das Kind so leicht werden lassen, dass die Glocken es trugen, ohne zu läuten.

Aus dem „Konversationslexikon der
Jenseitsmythen“
    (hrsg. v. Daniel Tammuz und Prof. Herfried Lorca),
Seite 268
    Jizō . Bodhisattva in der japanischen Variante des Buddhismus. In der buddhistischen Mythologie ein Beschützer und Wächter über die Seelen totgeborener oder früh verstorbener Kinder, denen durch ihren vorzeitigen Tod der Übertritt über den Unterweltfluss Sanzu (siehe dazu auch
Lethe
) verwehrt ist. Jizō-Figuren, die meist einen sitzenden Mönch mit Glatze und geschlossenen Augen darstellen, der in der Hand einen Pilgerstab hält (vgl.
Hl. Nikolaus
), sind auch heute noch häufig auf Friedhöfen zu finden.

Eröffnungsfeier
    Walter trug eine lächerliche Baskenmütze, die ihm ständig vom Kopf fiel. Er wollte vermeiden, dass sein Vater ihn unter den Zuschauern erkannte. Er war nicht wegen ihm gekommen. Er hielt Ausschau nach Joachim oder vielleicht nach Franz oder
Dieda
, denn vermutlich kreisten sie in verschiedenen Umlaufbahnen um den Dichter.
    Was für eine lächerliche Inszenierung. Ein paar Litfaßsäulen, davon eine knallrot angemalt, standen in einigem Abstand voneinander in der Allee, und das war schon alles. Die Kunstmenschen (Leute mit Kiemen und Schwimmhäuten zwischen den Fingern) kamen tatsächlich, um sich simple Säulen anzusehen, die sie auch sonst überall zu sehen bekamen. Aber vermutlich war gerade das der Punkt, alltägliche Dinge neu erleben blablabla.
    Als sich sein Vater auf der Bühne zeigte, die auf einer Wiese nahe der Allee errichtet worden war, wurde Walter kleiner. Er klappte den Mantelkragen hoch, zog den Hals ein. Er war sich einigermaßen sicher, dass seine Mutter nicht hier war. Und Mirja verstand nicht das Geringste von Kunst.
    – Meine Damen und Herren!
    Sein Vater hatte zu sprechen begonnen.
    – Herzlich willkommen zur Eröffnung der Ausstellung
Think Tanks
. Mein aufrichtiger Dank gilt der Stadtverwaltung und vor allem –
    Walter hörte weg, Dankesworte hatten ihn noch nie interessiert. Aber jetzt, da alle Menschen stillstanden (und ihre Kunstszene-Kiemen in Zeitlupe zwinkerten), war es einfacher, nach Joachim Ausschau zu halten.
    Walter ertappte sich dabei, wie er auf Zehenspitzen herumging.
    – Meine Damen und Herren. Diese Säulen sind einfache geometrische Embleme unseres Gedächtnisses. Wie der Wunderblock des großen Psychoanalytikers Sigmund Freud werden sie

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