Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
nie gelöscht, nie verlieren sie ihre Farbe, sondern werden immer nur überschrieben, überklebt mit einer neuen Schicht, einer neuen Schicht Werbung, die kaum einen Sinn ergibt ohne die vorhergehenden Schichten und Ge-Schichten. Schichten und Ge-Schichten. Und diese verschiedenen Ge-Schichten sprechen, in derselben Sprache wie ein Baum, zu uns vom Wesen der Zeit. Die Säulen sind gleichzeitig die Säulen der Geschichte. Sie sprechen vom Vergehen der Zeit, die Ezra Pound, ein berühmter amerikanischer Dichter, einmal auf folgende Weise beschrieben hat:
We do NOT know the past in chronological sequence. It may be convenient to lay it out anesthetized on the table with dates pasted on here and there, but what we know we know by ripples and spirals eddying out from us and from our own time
. Die Spiralen, von denen hier die Rede ist, sind wie die Jahresringe der Bäume oder das Schicksal verschiedener Flüssigkeiten, die in einer Kaffeetasse zusammengerührt werden.
    – Kssss!
    Ein Geräusch dicht neben ihm, als hätte sich jemand verbrannt. Walter drängte ein paar Menschensäulen auf die Seite, dann sah er ihn. Er sah wirklich gut aus. Er stand neben Franz, das war Pech, denn so würde sich nur ein doppelt peinliches Gespräch ergeben. Er hatte abgenommen. Er war – man musste es zugeben – wirklich hübsch. Walter war der einzige in der Menschenmenge, der gegen den Strom schaute. Fast spürte er so etwas wie Gegenwind.
    – Meine Damen und Herren, lassen Sie mich also wiederholen: Diese Säulen verkörpern die Zeit, besonders natürlich die Vergangenheit. Das Problem der Vergangenheit ist allerdings eine äußerst verführerische und gefährliche Illusion, nämlich die Annahme, man könne sie deuten. Im Falle meiner Säule, der betretbaren Litfaßsäule, ist es allerdings so, dass der Hohlraum ein in jedem Fall subversiver Ort bleibt, der nicht so leicht gedeutet werden kann. Der Sessel darin und dazu das Bild an der Wand mit dem in comichafter Leichtigkeit über eine Wasserfläche steuernden Schiff – was bedeuten sie? Natürlich stellt sich jeder von uns diese Frage. Aber es ist eine Frage, die nicht beantwortet werden kann, auch so etwas gibt es, eine Frage wie ein leerer Handschuh, der das Gebärdensprache-Zeichen für
Wie bitte?
macht – mit anderen Worten: eine Falle. Wenn die Litfaßsäule geschlossen wird, ist es drinnen vollkommen dunkel. Natürlich haben wir daran gedacht, im Inneren eine Lampe zu installieren. Doch diese wird ausschließlich –
    Walter hörte nicht mehr hin. Er schob Menschen wie Schilf zur Seite. Er stand vor Joachim und Franz.
    – Oh, hallo, sagte Franz.
    Da ihm vor Aufregung ein Frosch in den Hals gekrochen war, hob Walter die Hand zu einer lässigen Begrüßungsgeste.
    – Ja, wenn – Ha!
    Joachim ging auf ihn zu, umarmte ihn und tätschelte seinen Nacken. Walters Körper war sofort kraftlos geworden, sodass Joachim ihn nicht gleich wieder loslassen konnte. Er hing wie ein schlaffer Kartoffelsack in den Armen des Dichters. Dann war es Zeit, sich wieder aufzurichten.
    – Du schaust fantastisch aus, brachte er hervor.
    – Na ja, ich fühl mich ganz gut. Körperlich. Sonst ist diese Veranstaltung bisher allerdings eine einzige Höllenfahrt.
    – Ja, allerdings, pflichtete Franz bei, nahm Joachims Hand und legte sie sich auf die Brust.
    Die Geste war so überdeutlich, dass Walter besiegt zu Boden blickte.
    – Der lässt kein gutes Haar an meinem Text. Alles total verdreht und gekürzt und verstümmelt, sagte Joachim. Aber gut, wenigstens steht der Originaltext in der Broschüre.
    – Und bezahlt hat man dich auch ganz ordentlich, sagte Franz zu Joachims Hand auf seiner Brust.
    – Oh ja. Geld hat er, dein Papa.
    Und Joachim klopfte Walter, der sich inzwischen umgedreht hatte und in die gleiche Richtung schaute wie all die anderen Menschen auf diesem Planeten, auf den Rücken.
Dein Papa
. Ja, das stimmte, das da vorne am Rednerpult war sein Vater. Die Welt war ja so klein, andauernd fiel sie einem runter und dann suchte man stundenlang vergeblich nach ihr, weil sie in irgendeine Ritze im Fußboden gekullert war, die Welt.
    – Joachim, sagte Walter hilflos.
    – Hast du das gehört?, sagte Joachim zu Franz. Er schafft es nicht einmal, einfach vom Blatt abzulesen.
    Franz kuschelte sich an ihn, während er das sagte. Er begann Joachims Schal abzuwickeln und schlang sich das eine Ende um seinen Hals. Jetzt waren sie beide miteinander verbunden. Walter bildete Fäuste in seinen

Weitere Kostenlose Bücher