Die Frequenzen
ich?, fragt Gerald.
– Sicher. Armes, verrücktes Schlüsselkind …
Habe ich das gerade laut gesagt? Muss wohl so sein, denn Gerald schaut mich vorwurfsvoll von der Seite an. Wer ist hier der Verrückte? Er hat Recht.
– Tu … tu nur … wie du magst, sage ich und versuche meiner Stimme eine gewisse nüchterne Klarheit zu geben.
Als plötzlich laute Musik aus den Boxen platzt, zucke ich zusammen.
– Leiser!
Gerald dreht am Regler.
Ich habe seit Tagen nichts Richtiges gegessen, also muss ich meine Hose ständig festhalten, damit sie nicht herunterrutscht. Und ich singe laut zu
Soul Man
von den Blues Brothers (die sich als kleine silberne Scheibe im CD-Player drehen und, nebenbei bemerkt, nicht singen können; sogar ich kann das besser) und deute mit dem Zeigefinger meiner freien Hand an die Decke, als wollte ich sagen: Dort, dort sitzt der Blues. Dabei ist es nur eine Decke. Ich bin so albern wie lange nicht mehr. Ich schäme mich und schwitze. Ich gehöre eigentlich nicht hierher, ichgehöre in eine Mischung aus Badewanne, Bett und Ausnüchterungszelle.
–
Comin’ to ya! On a dusty road!
Ich ahme John Belushis quakende Stimme nach, was Gerald wahrscheinlich nicht einmal bemerkt. Er kennt den Film nicht. Die CD gehört Lydia.
Briefcase full of Blues
. Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr gehört. Gerald lacht über meine, über unsere improvisierte Darbietung so heftig, dass er ohne nachzudenken plötzlich einen Tanzschritt ausführt. Gott sei Dank macht er ihn auf dem Teppich und steht gleich wieder auf. Die Haut auf seinen Knien ist inzwischen wahrscheinlich so dick wie Elefantenfußsohlen.
–
Got what I got! The hard way!
Ich habe es noch nie bemerkt, aber das Gitarrenriff, diese zwei, drei Akkorde, die von der Rhythmusgruppe während der Strophen immer und immer wieder heruntergenudelt werden, haben die Fähigkeit, einen glücklich zu stimmen. Wie zum Teufel machen sie das? Es liegt vielleicht daran, dass ich mein Gehirn mit Getränken unterschiedlichster Art auf die Frequenz eines melancholischen Nachtwächters heruntergetunt habe, der alten Zeiten nachtrauert und während seiner ewigen Rundgänge interessante Dinge im Mond erkennt: einen Hasen, das Gesicht von Mafalda aus den Peanuts, ein Smileygesicht, das nachdenkliche Konterfei von James Joyce. Aber diese Gitarrenakkorde dürfen das nicht, sie sollen mich gefälligst in Ruhe trauern lassen, weil alles entsetzlich und hoffnungslos ist, und ich bin ganz allein auf der Welt und am Ende wahrscheinlich noch viel schlimmer dran als ein zusammengeschlagener Clown, der in der Gosse liegt und an seiner eigenen Schminke erstickt.
–
Ama Soulmääähn!
Geralds Stimme kann richtig laut sein, wenn sie will. Sie tut mir zwischen den Augen weh, als besäße jeder Vokal eine scharfe Kante. Vom Tanzen wird mir schwindlig. Mein Bauch fühlt sich an wie ein angebissener Apfel. Aber mitten in dem Schwindel, dem Ekel und den dummen Tanzbewegungen, die ich mir in meinem luftleeren Raum erlaube, überfällt mich plötzlich eine Klarheit, als wären meine Augen zwei Luftblasen, eingeschlossen in einem Eiszapfen.
Tee ist das Beste
Der Sommer war endgültig vorbei, es war Herbst geworden: Die Luft kühlte ab, die Bäume in den Straßen verfärbten sich, die Nobelpreise wurden vergeben.
Ich war auf dem Weg zu meiner Mutter. Gerald hatte irgendwann die Geduld mit mir verloren und war nach Hause gegangen, zum nächsten betrunkenen Menschen. Kein leichtes Leben. Keine Auswege.
Ich hatte nicht weit, aber schwankend und unsicher, wie ich mich fühlte, dauerte es trotzdem eine Ewigkeit. Das fette, grüne Baugerüst am Nachbarhaus lag verlassen da, obwohl heute ein Werktag war. Wie ein ausgeflogener Bienenstock. Eine schlotternde Riesenflagge. Vielleicht machte es aus irgendeinem Grund keinen Sinn mehr, das Gebäude fertig zu stellen.
Im Wohnzimmer meiner Mutter stand ein altes Klavier, das sich von Jahr zu Jahr mehr verstimmte, als verliere es langsam seinen Verstand. Aus Mitleid spielte niemand mehr darauf. Nur hin und wieder tänzelte eine der Katzen meiner Mutter über die Tasten und komponierte nervöszerklüftete Filmmusik für eine Horrorparodie.
Sie freute sich sehr, mich zu sehen, und umarmte mich. Ihr ging es so gut wie schon lange nicht. Die Medikamente abzusetzen, sagte sie, sei die beste Entscheidung gewesen, die sie je getroffen habe. Es käme ihr nicht mehr so leicht alles durcheinander. Im Kopf.
– Ich bin so froh, dass du mich besuchen
Weitere Kostenlose Bücher