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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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kommst, sagte sie. Magst du Tee?
    – Ja.
    – Bist du heiser?
    – Ein wenig.
    – Warum denn?
    – Ich hab zu laut gesungen.
    So zärtlich wie möglich dachte ich:
Warum konnte sie nicht tot sein anstelle
– Ich war immer noch betrunken, das durfte sie nicht merken. Während sie Tee machte, heulte ich still in meine Handfläche. Als sie zurückkam, schwebten vor ihrem Gesicht Dampffäden über den beiden Teetassen wie orientalische Flaschengeister.
    Ich wollte etwas sagen, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen.
    – Seit ich die Tabletten weggeschmissen habe, weißt du, kann ich mich plötzlich wieder an Dinge aus meiner Kindheit erinnern, die ich schon vor langer Zeit vergessen habe. Aber vielleicht ist das auch nur eine Folge des Alters. Ach, ich bin wirklich nicht mehr die Jüngste. Weißt du, das letzte Mal, dass mir jemand auf der Straße nachgeschaut hat, das war vor fünfzehn Jahren, kannst du dir das vorstellen? Ich erinnere mich jetzt wieder an alles, komisch. Aber ich rede nur von mir! Erzähl mir von dir. Was machst du so?
    – Mama, ich …
    – Du bist ja wirklich heiser, mein Gott. Hast du dich verkühlt? Warte, ich hol dir was gegen Halsweh. Hast du Schmerzen?
    – Nein.
    – Aber die wirst du noch bekommen. Bei dir hat es schon immer länger gedauert. Früher hab ich immer an deinem Mundgeruch gewusst, dass du eine Halsentzündung hast, lange bevor es dir wehgetan hat. Und jeden Oktober hattest du diesen Husten, danach konnte man die Uhr stellen. Diesen trockenen Keuchhusten, der einfach nicht besser werden wollte. Das war wie verhext. Der ganze Oktober gehörte dem Husten und basta.
    – Ich –
    – Du siehst schlecht aus. Hast du abgenommen?
    Dass sie so vereinnahmend war wie immer, wirkte aus irgendeinem Grund sehr beruhigend. Ich wollte mich am liebsten einrollen auf der breiten Couch, in dem bekannten Zimmer, das sich mit dem schicksalsschweren Geruch von Tee füllte.
    – Tee ist das Beste, sagte meine Mutter. Findest du nicht auch? Danach geht’s einem immer besser. Aber weißt du was, ich erinnere mich nicht mehr, wann du deinen ersten Rausch hattest.
    – Ach, Mama …
    – Doch, doch. Glaubst du, ich merke nicht, dass du getrunken hast?
    – Nur ein bisschen.
    – Ein bisschen zu viel. Na, ist ja egal, du bist schließlich erwachsen. Klüger macht’s einen halt nicht. Also, jetzt erzähl, was machst du so? Du lässt dich ja nicht viel blicken. Ich bin meist den ganzen Tag allein, und wenn ich die Katzen nicht hätte, dann würde ich wahrscheinlich die ganze Zeit spazieren gehen oder im Park herumsitzen. Als junger Mensch kann man das nicht verstehen, aber es sind die einzigen Dinge, die man sonst tun kann, wenn man alt ist. Alte Menschen tun das nicht, weil sie dumm sind oder langsam, sondern weil es sonst kein Betätigungsfeld – ja, das ist der richtige Ausdruck: Betätigungsfeld –, weil es für sie sonst nichts mehr gibt. Aber das wirst du schon noch merken.
    – Sicher, ja, warum nicht, sagte ich.
    – Hm? Was hast du gesagt?
    – Ja, du hast Recht.
    – Nein, sagte sie mit etwas sanfterer Stimme, nein, wenn du einmal alt bist, dann haben die bestimmt schon waserfunden gegen diese Langeweile, vielleicht sogar gegen das Alter selber. Stell dir das einmal vor: Alle sterben jung! Ich werde das nicht mehr erleben, aber du vielleicht …
    – Kann ich mich vielleicht ein bisschen hinlegen?
    Ihr Gesicht hellte sich auf.
    – Natürlich, sagte sie mit leiser, konzentrierter Stimme, die ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr gehört hatte. Leg dich hin.
    Alles wurde wie Watte. Ihre Hand führte meinen Kopf, der schwer auf die Couch sank. Der vertraute Geruch nach Feuchtigkeitscreme.
    – Leg dich nur hin. Ausruhen ist immer das Beste. So wie Tee. Schlaf dich aus. Angenehme Träume.
    Meine Augen schlossen sich automatisch, wie bei einer Glaspuppe, die man auf den Rücken legt. Meine Mutter nestelte an meinen Füßen herum, da ich sie auf den Schlafplatz einer der Katzen gelegt hatte. Meine Mutter hatte in ihrem Leben viele Katzen gehabt. Im Augenblick besaß sie zwei klein geratene kuhgefleckte Weibchen, ein dreibeiniges, agiles Männchen und einen fünfzehnjährigen Kater, der auf seine alten Tage aufging wie Germteig. Er schleppte seinen schweren, aufgedunsenen Körper mit sich herum, tatzte nach irgendwelchen Dingen, die gerade noch in Reichweite lagen, und freute sich, wenn man ihn am Kinn kraulte. Sein Blick war manchmal sehr klar und ruhig und er schnurrte freundlich, dann

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