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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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bekam. Am Schluss war der Soldat ein schwarzgrünes Häuflein Elend, auf dem zuoberst ein stecknadelgroßer Helm schwamm.
    Das elfte Jahr meines Lebens. Ich war kleiner als alle anderen Menschen. Manche Leute auf der Straße trugen Koffer, in die ich gepasst hätte. Und vielleicht waren all diese Koffer tatsächlich voller Kinder, die sich die Glieder verrenkten, während ihre Atemluft langsam zur Neige ging.
    – Alexander! Wo bleibst du denn?
    Meine Mutter half mir mit dem Skianzug. Ich hasste ihn, weil er mir schon letzten Winter viel zu klein gewesen war, aber meine Mutter bestand darauf, dass kein Mensch so schnell wachse, und machte den Reißverschluss zu. Das kleine Metallding blieb knapp unterhalb meines Kinnsstehen. Wäre es möglich gewesen, meine Mutter hätte es wohl noch weiter nach oben gezogen, über mein Gesicht und meinen Kopf hinaus.
    Es dauerte eine Weile, bis es im Auto warm war, da die Heizung nicht richtig funktionierte. Der alte VW. Im Fahren wurde es manchmal kälter, dann wieder wärmer. Das Beste war, man ließ das Auto im stehenden Zustand ein wenig vorheizen und wartete, bis es sich zwischen zwei Extremen eingependelt hatte. Solange es in der Fahrerkabine nicht warm genug war, dass man darin wie in einer Luftblase durch die feindselige Umgebung der Stadt schweben konnte, weigerte sich mein Vater loszufahren. Wir warteten unterdessen im Haus, vollständig angezogen, während er im Wagen mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte.
    Meine Mutter beobachtete ihn vom Küchenfenster aus.
    Es war fast unmöglich, mit einem Skianzug auf einem der schmalen Sessel zu sitzen. Dazu trug ich noch Handschuhe, die ich mir abstreifte, als mir der Schweiß ausbrach. Auch die Haube legte ich ab. Sie fiel auf den Boden und meine Mutter hob sie blitzschnell auf, klopfte sie an ihrer Hüfte ab und gab sie mir zurück. Dann trat sie wieder ans Fenster. Ich sah, dass sie hinauswinkte.
    – Immer noch zu kalt, sagte sie.
    Mein Vater würde, wenn es warm genug war, zweimal hupen. Dann durften wir kommen und es ging los.
    – Ich muss noch aufs Klo, sagte ich und zog den Reißverschluss auf.
    Meine Mutter zog ihn wieder nach oben.
    – Aber du warst doch gerade! Komm, wir fahren gleich los, dann kannst du im Gasthaus gehen. Die zehn Minuten hältst du schon noch aus. Wenn wir jetzt gleich –
    Sie verstummte und spitzte die Ohren. Ein Motorengeräuschwar zu hören. Und das Knirschen von Rädern auf hart gepresstem Schnee. Ohne etwas zu sagen, lief sie zur Tür hinaus. Ich taumelte ihr nach, die lange Unterhose kratzte an meinen Beinen.
    Der alte VW fuhr in der Einfahrt langsam rückwärts.
    Meine Mutter war bereits eingestiegen. Sie schluchzte. Ich nahm hinten Platz.
    Wir fuhren los.
    – Jetzt beruhig dich wieder, sagte mein Vater leise.
    Seine Finger hatten nicht aufgehört, auf das Lenkrad zu trommeln, obwohl es im Auto inzwischen fast schon heiß war. Nur wenn er den Gang wechseln musste, dann griffen sie energisch zu.
    Meine Mutter beruhigte sich tatsächlich. Autofahren nahm sie mit all ihren Sinnen gefangen. Sie sah aus dem Fenster, auf die vorbeiziehenden Gebäude, allesamt weiß und charakterlos. Sie drehte sich zu mir um.
    – Suchst du uns einen Sender aus, hm?
    Ich rutschte zwischen den beiden Vordersitzen durch und schaltete das Radio ein. Ich drehte zwischen einzelnen Sendern hin und her; mein Vater beobachtete genau, was ich tat. Als ich einen Sender gefunden hatte, der nur Musik zu spielen schien, setzte ich mich wieder hin.
    – Schnall dich bitte an, sagte mein Vater.
    Wir fuhren in eine Kurve, und es dauerte eine Weile, bis der Sicherheitsverschluss in den dafür vorgesehenen Schlitz passte. Er schnappte zu, ohne mir den Finger einzuklemmen. Der Gurt rieb an meinem Hals.
    Mein Vater wechselte den Sender. Nachrichten. Eine Frau auf den Philippinen war über hundert Jahre alt geworden und konnte immer noch mit dem Rad fahren.
    Wir hielten an einer Ampel. In einem hell erleuchteten Fenster stand ein Mann und blickte auf die wartendenFahrzeuge herunter. Er trug einen schwarzen Hut. Erst als wir langsam anfuhren, bewegte auch er sich und verschwand. Dieser Mann wusste nichts von uns, dachte ich, nichts. Er hatte nichts mit uns zu tun, sein unbekanntes Gesicht war Teil eines völlig anderen Universums.
    Mein Vater fluchte über die Meldung im Radio, dass der Benzinpreis wieder im Steigen war.
    Ich schaute durch das hintere Fenster zurück zu dem Haus, in dem der unbekannte Mann lebte. Das Haus wurde

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