Die Frequenzen
draußen, hinter der geschlossenen Tür, die von glühenden Lichtbalken eingerahmt war (welche mit der Essenz verbotenen nächtlichen Erwachsenen-lebensgetränkt waren), unauffällig und stetig Krach zu machen, Geschirr zu ordnen, Bücher im schmalen Regal neben dem Fernseher herauszunehmen und wieder hineinzustellen – obwohl sie es natürlich nie tat. Es ging um ihre Zustimmung, ihr Versprechen.
– Gute Nacht.
– Gute Nacht.
– Schlaf schön.
– Mama?
– Ja?
– Du bist draußen, oder?
– Ja, natürlich, ich bin in der Küche und im Wohnzimmer.
– Warum kann ich nicht auch noch ein bisschen im Wohnzimmer sein?
Ihre Hand legte sich von außen auf die Türklinke; sie sank etwas nach unten.
– Weil du jetzt schlafen musst. Schlaf schön.
– Aber Mama …
– Und schöne Träume.
Der Türspalt, in dem sie als schwarze Silhouette gegen das hereindrängende, unendlich interessante Licht stand, wurde schmaler, er drohte zu verschwinden.
– Mama!
– Was ist denn?
Die Türklinke atmete erleichtert auf.
– Du hast vergessen zu sagen –
– Angenehme Träume, hab ich doch gesagt.
– Nein, du hast gesagt
schöne
Träume, und vorher hast du
Schlaf schön
gesagt, also zweimal
schön
.
– Also gut, angenehme Träume.
– Nein, sag’s zweimal.
– Alexander!
– Mama!
Wenn mein ruheloser, lebenshungriger Geist sich nicht geschlagen geben wollte, brach ich in Tränen aus. Meiner Mutter blieben dann im Prinzip zwei Möglichkeiten: die Tür zu schließen und den Abend in Unfrieden zu beenden, da sie wusste, dass ich zu faul sein würde, um tatsächlich aufzustehen und zu ihr zu gehen; oder das dumme Spiel weiterzuspielen, bis zu dem Punkt, da ich zufrieden war.
Natürlich konnte ich selbst auch nicht anders, als mich jeden Abend mühsam die Geländepunkte des zwanghaften Spiels entlangzuhanteln, bis mein Bewusstsein endlich losließ und in bedeutungsvollen Unsinn versank. Der täglich von mir verlangte Abstieg in die Traumwelt hatte zu dieser Zeit weder etwas Beruhigendes noch etwas Aufregendes für mich. Ich fantasierte sehnsüchtig von einer Welt, in der man niemals schlafen musste. Eine Welt ohne erleuchtete Türspalte, die mit einem Ruck zugeklappt werden konnten.
– Angenehme Träume!
Manchmal trieb ich meine Mutter mit meiner Bettelei, dieses oder jenes Wort der Einschlafliturgie noch einmal zu wiederholen, damit das Protokoll auch wirklich eingehalten wurde, so zur Verzweiflung, dass sie ausfällig wurde und mir drohte, die Tür von außen zu versperren, wenn ich nicht sofort Ruhe gab. Natürlich weinte ich dann, so
gerade noch hörbar
, wie ich konnte, einige Minuten lang, damit sie merkte, wie sehr sie mich mit ihrer Drohung eingeschüchtert hatte, bis sie zurück kam und eine dem feierlichen Vokabular des Einschlafrituals entsprechende Entschuldigung aufsagte, die ich sie dann, angetrieben von der kraftspendenden Wirkung gestillter Tränen, noch ein paar Mal wiederholen ließ.
Und schließlich Nummer vier. Meinen ersten Regenschirm bekam ich – ich erinnere mich genau – mit fünf Jahren. Als ich ihn sah, nahm ich ihn zuerst gar nicht als Schirm wahr. Für den Bruchteil einer Sekunde, für jene kurze Zeitspanne, die wir den
ersten Blick
nennen und später gern für die größten Fehlentscheidungen unseres Lebens verantwortlich machen, für diesen flüchtigen Moment war er etwas anderes, beinahe Lebendiges, ein Mysterium an Struktur, das sich in seltsamer Spreizgebärde auf dem Küchenfußboden niedergelassen hatte und mich mit einem einzigen ausgefahrenen Fühler anstarrte, auf dessen Spitze ein blendendes Korn Sonnenlicht balancierte. Wie konnte etwas nur so aussehen? Mit diesem langen, am Ende geringelten Schwanz, mit dieser breiten Hutkrempe aus schwimmhäutig bespanntem Stoff und dem sonderbaren Muster, das ihn bedeckte: eine Wolke von weißen Punkten, von denen manche durch dunkelblaue Linien verbunden waren. Erst ein paar Tage später begriff ich den Sinn dieser Verzierung. Ging man unter dem Schirm durch den Regen, konnte man in eine reizvolle Miniatur des nächtlichen Sternenhimmels blicken. Sein erstes Loch bekam der kleine Kinderregenschirm übrigens in der Umgebung der Plejaden, einem blassen Schönheitsfleck der Milchstraße, der aus ungefähr tausend Sternen besteht und für das ungeschulte Auge leicht mit einer verunreinigten Brille oder einer Glaskörpertrübung zu verwechseln ist.
Der Riss war in meinem sechsten Lebensjahr aufgetaucht, gegen Ende eines
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