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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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für das er den Kaufvertrag einst eigenhändig unterschrieben und dessen Garten er aus eigener Kraft bepflanzt hatte.
    Er war es im Übrigen, der dem Riss seinen Namen gab. Er nannte ihn:
Riss
. Manchmal auch:
Risss
.
    In seinem Arbeitszimmer stand eine Schiefertafel, die mir, der ich noch keinerlei Gedanken an unverrückbare Tatsachen wie das Erwachsenwerden, den Tod oder das implodierende Universum verschwendete, Schauer über den Rücken jagen konnte, wenn ich mich ihr mit meinem Finger näherte: Lange bevor ich sie berührte, teilte sich ihre Oberflächenbeschaffenheit, jene furchtbare Mischung aus glatt und rau, meiner Haut mit, so ähnlich wie wenn man mit der Hand über einen knisternden Fernsehbildschirm wischt.
    Auf der Tafel meines Vaters befand sich seit geraumer Zeit eine ungefähre Kopie des Risses, die Übergänge von Wand zu Wand waren durch ein kleines Symbol gekennzeichnet, das, wie ich später lernte, einen rechten Winkel bezeichnete.
    Natürlich war mein Vater unempfindlich gegenüber der Oberfläche der Tafel, er bemerkte nicht einmal das Kreischen der Kreide, das immer dann entstand, wenn er zu schnell auf ihr schrieb. Er tat alles am liebsten sehr schnell, denn je schneller er die Dinge erledigte, desto eher hatte er sie hinter sich, und erst wenn etwas zu Ende war, konnte er darüber reden, was, wie mir früh klar wurde, die einzige Überlebensstrategie war, die es für ihn in der Hölle gab.
    Seine Hölle maß in ihrer Gesamtheit ungefähr einhundertzwanzig Quadratmeter, verteilt auf zwei Stockwerke, eine Terrasse mit Garten, einen Balkon und eine finstere Garage.
    Die Vorbesitzer des Hauses hatten es sich nicht nehmen lassen, bei ihrem Auszug das Geländer der Innentreppe aus ihrer Verankerung zu reißen und mitzunehmen.
    Das Haus war in den sechziger Jahren gebaut worden, es hatte beängstigend wenig Überflüssiges in seiner Bauweise. Wilder Wein, dem man eine Fassade zum Wachsen anbot, bildete nur ein paar traurige Ärmchen, die keinen Halt fanden. Efeu wuchs in leidenschaftslosen Ornamenten an der schmutzigen Garagenwand. Und selbst bunte Girlanden, die irgendwann anlässlich eines längst vergangenen Kindergeburtstags aufgehängt worden waren, blieben nicht hängen und fielen ins Gras. Es gab keine vorstehenden Fensterbretter, auf denen Blumentöpfe Platz gefunden hätten, aber zumindest gab es einen Balkon. Der Balkon lag allerdings auf der Schattseite des Hauses, und im Winter bildeten die Eiszapfen unter der Dachrinne einen dicken, weißlich-transparenten Euter.
    Nach dem Auftreten des Risses blieben die morgendlichen Rundgänge meines Vaters manchmal aus. Stattdessen hörte man mysteriöse Geräusche aus dem Keller, bis hinauf in den ersten Stock und in mein Zimmer.
    Was tat er die ganze Zeit da unten? Ich traute mich nicht zu fragen. Und ich durfte ihn, soviel war sicher, auch nicht begleiten. Angeblich bestand Einsturzgefahr. Was aber niemand bedacht zu haben schien, war, dass in der Folge ja das ganze Haus betreffen musste, also auch mich, der in vermeintlicher Sicherheit im ersten Stock im Bett lag, während mein Vater unten mit dem Erdreich verhandelte.
    Ich versuchte durch unauffällige Bemerkungen meine Mutter dazu zu bringen, mir unabsichtlich auf meine stumme Frage zu antworten. Etwa:
Ja, Alexander, da unten ist ein riesiger Tunnel, eine Probebohrung, und da macht der Papa ein neues Stützgerüst für unser Haus. Er kann das. Man darf ihn bloß
nicht stören. Diese Erklärung machtemeinen Gedanken selbst im Halbschlaf ein jähes Ende. Alles, wobei man meinen Vater nicht stören durfte, gehörte in eine Sphäre von fast religiöser Selbstgenügsamkeit.
    Warum durfte man ihn nicht stören? Natürlich weil man ihn nicht stören durfte.
    Gott existierte und waltete irgendwo tief in diesen stillen Verlautbarungen, und mein Vater verehrte einen besonders schwierigen, unversöhnlichen Gott, für den er jeden Tag sehr früh aufzustehen pflegte, um vor dem Haus langsam auf und ab zu gehen. Diese Art von Morgenmesse durfte nur er allein besuchen. Wenn man ihn bis an die Türschwelle verfolgte und fragte, was er denn um fünf Uhr morgens auf der Straße machte, wurde er wütend und ging ohne Kommentar ins Haus zurück.
    Ließ man ihm aber seine zwei Stunden, die ihn vom Zusammenleben mit seiner Familie trennten (um sieben Uhr stand meine Mutter auf), war er tagsüber einigermaßen ruhig und entspannt. Um fünf Uhr früh ist eine schmale Nebenstraße in einer mittelgroßen Stadt wie

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