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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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wusste.
    Joachims romantisch intonierte Antwort war der Schlusspunkt gewesen. Drei Tage später zog Walter bei ihm aus und sie besprachen die ungewisse Zukunft ihrer Beziehung am Telefon. Walter, der seinen überstürzten Auszug ein wenig zu bereuen begann, erzählte Joachim von seinem Coming-Out. Joachim hörte ihm ganz ruhig zu und sagte dann:
    – Weißt du was, ich beneide dich.
    Walter fragte ihn, warum er ihn beneide. Joachim habe doch seiner Familie ebenfalls von seiner Homosexualität erzählt.
    – Ja, sagte Joachim und schien plötzlich ganz nah am Telefonhörer zu kleben, ja, natürlich, aber die sind doch alle so unheimlich liberal und finden das ganz toll und alles. Ich beneide dich um den
Stoff
, um die Szene. Könntest du mir das noch einmal erzählen?
    Walter versuchte ein letztes Mal, das Thema zu wechseln, sprach Joachim auf seinen Alkoholkonsum an (seinen empfindlichsten Punkt), was Joachim normalerweise ungeduldig oder gar wütend machte, aber jetzt half nicht einmal mehr das.
    – Waren alle dabei?, fragte Joachim.
    Walter nahm das Telefon langsam vom Ohr, die empfindungslose Plastikoberfläche war noch für wenige Sekunden warm, und legte auf. Seine Gefühle für Joachim waren verschwunden, so sagte er sich, und die Bücher von Dennis Cooper wanderten in ein unerreichbar hohes Regal.

Der Riss
    Am innersten Punkt der Hölle stand einst ein mittelgroßer Eichenholzschrank, in dem nichts hing als eine Vielzahl nervös vibrierender Kleiderbügel. Diese Kleiderbügel hielten sich an der Metallstange fest wie die vor dem Abrutschen zu einem verzweifelten Fragezeichen gekrümmten Finger des Schurken in einem James-Bond-Film – und bei der ersten Berührung, manchmal sogar schon beim ersten Blick, fielen alle diese Kleiderbügel – eine Generation missgestalteter, von ihrem Schöpfer verstoßener Triangeln – zu Boden, klirrten in dem hölzernen Resonanzraum des Kastens und läuteten das Jüngste Gericht ein.
    Irgendwann im Jahr 1982 holte jemand, vermutlich mein Vater, der neben einem Ausweis für die Stadtbibliothek und einem Doktortitel in Physik auch einen LKW-Führerschein besaß, diesen Schrank von seinem ursprünglichen Bestimmungsort ab und stellte ihn in einen der noch weitgehend leeren Räume des Hauses, das er eben erst mit meiner Mutter bezogen hatte.
    Meine ersten Besitztümer waren dieser Kleiderschrank, eine Ausgeburt von Lärm und ständig herunterfallenden Dingen, und die Wiege, in der ich lag. Meine früheste Erinnerung ist das Bild der schwebenden Köpfe meiner Eltern über dieser Wiege: sonderbare, sich gegenseitig abstoßende Planeten, die niemals gemeinsam auftraten.
    Ein Gespräch, das plötzlich verstummt, weil ein ungebetener Gast den Raum betreten hat. Alle Gesichter drehen sich nach ihm um, sehen ihn vorwurfsvoll an. Man schämt sich plötzlich, kann nicht mehr weiterreden. Alles ist verändert.
    So ungefähr muss man sich meine Geburt vorstellen.
    Anfangs war alles noch gut, dann war ich meinen Eltern zunehmend im Weg und wurde auf den Balkon gestellt, wo die Luft so kalt war, dass sie vor meinem Gesicht zu Rauchzeichen gefror. In der Eiseskälte, eingewickelt in mehrere Lagen Decken, die mir das Erfrieren ersparen sollten, fragte ich mich mit der sprachlosen Aufrichtigkeit einer lebenden Tabula rasa, was ungeheuer Wichtiges vorgefallen sein mochte, dass ich hier war und mich bewegen konnte.
    So zumindest stelle ich es mir vor.
    Mit der Möglichkeit, mich zu bewegen, kam die seltsame Notwendigkeit, hin und wieder völlig still zu liegen, auszuruhen. Das führte automatisch zum dritten meiner frühesten Besitztümer: ein völlig abgewetzter Teddybär, der ungefähr zehnmal so alt war wie ich und schon einige Erfahrung mit Kindern hatte. Sein Spezialgebiet war die Linderung von Einsamkeit und Verlassensängsten. Ich vertraute ihm. Ich brauchte ihn, wenn ich ins Bett ging, denn einzuschlafen war ein fast unüberwindliches Problem. In der Nacht, wenn man schlaflos daliegt und an nichts zu denken versucht, werden die Ohrwürmer, die sich tagsüber angesammelt haben, immer lauter, plärrend und schnarrend, wie fremde Radiomusik von einem Nachbarbalkon im Sommer. Deshalb war das komplizierteste Ritual von allen das Einschlafritual. Meine Mutter musste mir jeden Tag Gute Nacht wünschen, dann noch versprechen, dass sie nicht aus der Wohnung ginge, während ich bewusstlos in der Dunkelheit lag, und musste am Ende auf meine nicht immer, aber immer wieder geäußerte Bitte eingehen,

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