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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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gefallen lassen musste, bereuten seine Eltern ihre Entscheidung, aber natürlich war es da längst zu spät.
    Das Hauptproblem in dieser Beziehung war, dass Walter sich Colin mit
Art
teilen musste. Art war ein Saxophon. Es war eines jener liebevoll abgewetzten Instrumente, an denen Jazzmusiker, diese seltsame Unterwasser-Spezies aus Clubs und Hinterhöfen, wie Walter sie sich gerne vorstellte, stundenlang mit ihren Lippen hängen konnten, um alle Musik bis auf den letzten Tropfen in gierigen Zügen auszutrinken.
    Colin war ein schwieriger Mensch.
    In besonders festgefahrenen Situationen, wo er an seinem Talent und seiner Zukunft gleichermaßen zweifelte, war Art, das Saxophon, ein überdimensionales Babyfläschchen, das ihn beruhigte. Er umklammerte das Instrument, das wie ein spanisches Fragezeichen vor ihm schwebte, und ging ruhelos durch alle Zimmer. Colin trug Augen im Gesicht, so wie andere Menschen Manschettenknöpfe tragen: nicht, um damit irgendwelche interessanten Dinge zu tun, sondern weil an dieser Stelle nun mal Platzfür sie gewesen war. Selbst wenn man ihn fotografierte, bei festlichen Gelegenheiten wie einer Geburtstagsfeier oder nach Aufführungen seiner kurzen Kompositionen, war das so, als zapfte man ihm unerlaubterweise etwas ab, von dem er ohnehin viel zu wenig besaß. Auf allen Bildern sah er dem Betrachter so entgeistert entgegen, als habe er noch nie etwas so Grauenhaftes gesehen wie den auf ihn gerichteten Lauf einer Kamera.
    Natürlich hatten auch Colins Eltern gewusst, dass man jemanden heutzutage nicht mehr einfach der Gosse überantworten kann, um aus ihm einen großen Jazzmusiker zu machen, deshalb schickten sie ihn auf die Musikuniversität. Doch da Colin den kleinen Rest an Mitspracherecht, der ihm eingeräumt worden war, voll ausgenutzt hatte, studierte er nun nicht Jazzarrangement oder Saxophon, sondern Komposition. Seine Eltern gaben sich damit zufrieden. Es war nahe genug an dem, was ihnen vorschwebte.
    Über Musik zu reden war für Walter bald mit einem eigenartigen Tabu belegt, denn Colin war wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der sich nie für irgendein Musikstück so begeistern konnte, dass er mitgetanzt, -getrommelt oder -gesummt hätte. Für ihn war jedes Stück eine Frage von Gelingen oder Misslingen einer gestellten Aufgabe. Ein Musikstück war eine Reihe von Axiomen und Folgerungen, die sich daraus ableiteten und die man im besten Fall hören konnte (sonst war es, wie Colin meinte, keine Musik im engeren Sinn). Und wenn ihm die Folgerungen einigermaßen sinnvoll erschienen, erklärte er es zu einem guten Stück. Er hörte sich einen zappeligen Popsong, eine leidenschaftliche Jazzballade, ein experimentelles Streichquartett für vier Roboter oder eine Sonate für neunundneunzig Geigerzähler mit dem gleichen Ernst an und gab hinterher seinen Kommentar ab. Wenn er komponierte, studierte er im Vorfeldeine Vielzahl obskurer Quellen, etwa die Mystikerin Juliana von Norwich oder mittelalterliche Chroniken über den Ausbruch der Pest in Europa. Ausgehend von diesen Quellen leitete er verschiedene Zahlenreihen ab, die er anschließend in Tonfolgen übersetzte. Wie er von den Zahlenreihen auf die Töne kam, blieb stets ein Geheimnis. Er hasste es, wenn man ihn darauf ansprach; dieses Recht besaß ausschließlich sein Professor – und der war ein Genie, ein Erleuchteter, der bei Wolfgang Rihm studiert hatte. Manchmal allerdings hatte Walter den Verdacht, Colin improvisiere seine Stücke lediglich und behaupte dann hinterher, sie aus abstrakten Zahlenfolgen destilliert zu haben.
    Colin hielt Anton Webern für den größten Komponisten aller Zeiten, ein Bild von dessen ernstem Konterfei, das an einer unheilbaren Brillenkrankheit litt, hing über seinem Schreibtisch. Der andere Heilige war Erik Satie. Von dessen Musik sagte er immer, sie sei so entwaffnend einfach, dass man sie sogar auf dem Rücken liegend mit den großen Zehen dirigieren könnte, und trotzdem bleibe es große Musik. Die Opernliteratur lehnte er zur Gänze ab. In seinen Augen hatte eine Kunstform keinen Sinn, deren einziges Geheimnis darin bestand, dass das Orchester immer schlauer und weitsichtiger war als alle handelnden Figuren.
    Walter fragte Colin eines Tages, ob das Saxophon tatsächlich das richtige Instrument für ihn sei. Er meine ja nur, dieser spezielle Klang, diese raunzig-verrauchte, quasi am Boden schleifende Leidenschaft. Colin reagierte auf diese Bemerkung überraschend zornig und nannte

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