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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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dir meine Worte … Man glaubt die ganze Zeit, man hat es endlich, und dann kommen einem ständig die eigenen Gedanken in die Quere. Die kann man nie abstellen. Nie, nie. Denn sonst würde man ja … sicher, man würde wahrscheinlich …
    Verrückt werden
– der Schraubenzieher vollendete den Satz mit einer kleinen irren Drehung. Mein Vater schüttelte den Kopf über diese unverrückbare Einsicht, und der Schraubenzieher wanderte zurück in seine Tasche. Dann ächzte er und hatte große Schwierigkeiten, sich zu bücken.

    Das Auftreten des Risses fiel mit einigen anderen unangenehmen Vorfällen zusammen. In der Schule wurde ich von einem Schläger namens Philipp belästigt. Er warf mich auf den Boden, setzte sich auf mich, schlug mich blutig, ließ mich Erde fressen und dabei rezitieren, dass ich gerne Erde fraß. Es gab kein Mittel, ihn zu bremsen. Er hatte sich auf mich eingestellt, hörte meine Stimme unter den Stimmen hunderter anderer Schüler heraus und steuerte zielsicher auf mich zu, nur um dann mit einem auf einschüchternde Weise glänzenden Grinsen vor mir stehen zu bleiben und zu sagen:
    – Ja, wen haben wir denn da?
    Ich wehrte mich, natürlich, ich versuchte alles. Aber es half nichts. Ich verlor regelmäßig mein Taschengeld an ihn, er sperrte mich im Klo ein oder trat mir von hinten in den Rücken, wenn ich auf der Treppe stand.
    Dann kamen die Sommerferien, eine kurze Erholungspause, und als die Schule wieder anfing, blieb sein Platz die ersten paar Wochen leer. Dann kam er für zwei Tage, verschwand aber wieder. Er sah sehr bleich aus.
    Mich schien er vergessen zu haben.
    Es hieß, er leide an einer schweren und komplizierten Krankheit. Mir erzählte man diese Neuigkeit mit einiger Genugtuung und achtete genau auf meine Reaktion. Vielleicht hätte ich diese Nachricht einfach zur Kenntnis nehmen sollen, anstatt ihn zu besuchen, aber ich wollte sehen, wie er hilflos in einem Bett lag und gefüttert werden musste.
    An einem Herbsttag läutete ich am Haus seiner Eltern, wurde von seiner Mutter, einer unwirklich geschminkten Frau mit kurzen Puppenhaaren, begutachtet und schließlich zu dem abgedunkelten Zimmer ihres Sohnes vorgelassen. Er lag im Bett, wie ich erwartet hatte. Ich begrüßte ihn. Er schaute mich lange stumm an. Dann setzte er sich auf.
    – Hallo, sagte er.
    – Und, wie geht’s?, sagte ich und setzte mich neben seine Beine, die aus der Decke hervorschauten. Er trug rote Socken, das weiß ich noch. Dann kommt ein längerer Filmriss. Ich erinnere mich nur noch an die finsteren Vorhänge und den abgestandenen Geruch im Zimmer, aber an kein einziges Wort unserer Unterhaltung.
    Zwei Tage später erhielt meine Mutter einen Anruf.
    – Ich wollte Sie bitten, Ihren Sohn nicht mehr zu uns kommen zu lassen.
    – Du liebe Zeit, was hat er denn angestellt?
    – Unser Sohn ist sehr krank, wie Sie vielleicht schon gehört haben.
    – Aber was hat mein Sohn ihm denn getan?
    – Das weiß ich nicht, aber Philipp hat sich furchtbar aufgeregt, nachdem Ihr Sohn bei uns war. Ich hab ihm eine Spritze geben müssen. Bitte, sagen Sie Ihrem Sohn, dass er nicht mehr hierher kommen soll.
    Aber meine Mutter wäre nicht meine Mutter, wenn sie nicht nachgefragt hätte:
    – Eine Spritze? Was denn für eine Spritze? Und was hat mein Sohn damit zu tun?
    Eine Zeitlang schwieg die Anruferin, dann knackte es in der Leitung und das Gespräch war beendet.
    Ich sah Philipp später wieder. Er hatte seine Krankheit überlebt und saß in einem Rollstuhl. Ich sprach ihn auf der Straße an, und es dauerte eine Weile, bis er sich an mich erinnern konnte. Dann schüttelte er mir die Hand. Aus irgendeinem Grund kam ich mir in diesem Augenblick vor wie sein Retter. Ich lächelte ihn von oben herab an und erbot mich, ihn im Rollstuhl zu schieben, egal wie weit, egal wohin. Vielleicht habe er ja Lust, den Mur-Radweg entlang bis zum Kalvarienberg zu fahren? Er lehnte angewidert ab.

Die anderen Namen
    Da Walter alle Fehler gern zwei- oder dreimal machte, war sein nächster Geliebter wieder ein Künstler. Colin. Der Name war das einzige Amerikanische an ihm, seine Eltern und alle anderen Vorfahren stammten aus dem Wiener Raum. Der amerikanische Name des jüngsten Sprösslings, der einmal ein berühmter Jazzmusiker werden sollte, bedeutete für die Familie so etwas wie ein Fenster in die Zukunft. Doch da dieses Fenster sich nie wirklich ganz öffnete und der Junge sich in der Schule eine Menge bösartiger Abwandlungen seines Namens

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